Editorial

Streß und Anästhesie G. Hempelmann, H. A. Adams' Abteilung &r Anaesthesiologie und Operative Intensivmedizin, Klinikum der Jusms-Liebig-UniversitätGiel3en ' Abteilungfür Anästhesie und inrensivmedizin,MarienkrankenhausTrier-Ehrang

Unter den Anästhesisten sind zumindest zwei Lager zu erkennen, die pointiert wie folgt charakterisiert werden können. Ein Teil, wenn auch sicher eine Minderheit, steht den endokrinologischen Fragestellungen der Streßantwort eher mit Unverständnis gegenüber und hält sich gewissemden an einen eigenen Schutzheiligen, St. Arnnesticus (,Hauptsache, der Patient erinnert sich an nichts!"). Auf der anderen Seite stehen die Verfechter der „streßfreien Anästhesie" (2), die möglichst jeden Anstieg endokriner Parameter vermeiden wollen und ihn für eine anästhesiologische Fehlleistung halten. Es fehlt nicht an Stimmen, die die endokrine Streßreaktion als ,archaischu und ,durch die moderne Medizin überholt" bezeichnen. Das geht bis zur provokativen Frage, ob wir uns nicht besser bei der Geburt einer Sympathektomie unterziehen sollten (4). Es hat aber auch nicht an Autoren gefehlt, die mehr oder weniger beiläufig und selbstverständlich vor einer zu starken Unterdrückung der Streßantwort gewarnt haben (3).

Es ist nicht einfach, hier eine Synthese zu finden. Vielleicht ist ein Vergleich geeignet, den Horizont etwas zu weiten. Ärztliches Handeln ist bei allen Fortschritten der „modernen Medizin (jedes Jahrhundert hat im übrigen seine Medizin h r modern gehalten) nicht in der Lage, die vielfältigen und bei weitem nicht endgültig aufgeklärten physiologischen und pathophysiologischen ReaktionsweiSen des Organismus stellvertretend zu übernehmen. Das käme dem Versuch gleich, beim septischen Patienten zum zwecke einer ,ungestörten Antibiotikatherapieu das Immunsystem zunächst einmal auszuschalten. Ebensowenig ist aber eine Anästhesie sinnvoll, die den Organismus seiner physio-

P -

P

Anästhesiol. Intensivmed. Norfailrned. Schmerzther. 26 (1991)293 O GeorgThierne Verlag Smttgart . New York

logischen Regulationsmechanismen im Sinne einer maßvollen Streßantwort beraubt. Heinrich Schipperges (5)hat eindringlich vor einer Überschätzung der medizinischen Möglichkeiten gewarnt: „Neben dem unendlich Großen des Makrokosmos und dem unendlich Kleinen des Mikrokosmos erscheint nun das unendlich Komplexe, das den Organismus im Prozeß kennzeichnet". Diese Ehrfurcht vor dem Wunder des Lebens ist teilweise verlorengegangen und dem Glauben an das Machbare gewichen. Die tägliche ärztliche Erfahrung belehrt uns eines Besseren. Die Übertragung dieses Gedankens auf die Bewertung der endokrinen Streßreaktion ist einfach und naheliegend. Nicht die Unterbindung der körpereigenen Regulationsmöglichkeiten um jeden Preis ist das Ziel, sondern ihre Nutzung und Steuerung im Sinne einer verantwortungsvollen Moderation. Um noch einmal Schipperges (5) zu zitieren: ,Denn die Medizin, sie stammt nach Isidor von Sevilla vom ,Modusc, von Mitte und M d . Kranksein ist ,immoderatio'. Der Arzt kann nichts anderes sein als ,Moderator', einer, der Maß nimmt, Maß hält und auch Maßstäbe setzt." In diesem Sinne sollten wir uns eine angemessene Streßreaktion zum Freund machen: Let's Have ,SympathyC'(1). Literatur

'

Bosnjak, Z J.: Let's have "sympathy". Anesthesiology 69 (1988) 806 Kehlet, H.: Stress free anaesthesia and surgery. Acta Anaesthesiol. scand. 23 (1979) 503-504 Reier, C. E., J. M. George, 1. W. Kilman: Cortisol and growth horrnone response to surgicai Stress during morphine anesthesia. Anesth. Analg. 52 (1973) 1003-1010 Roizen, M. F.: Should we all have a sympathectomy at birth?Or at least preoperatively?Anesthesiology 68 (1988) 482484 Scbipperges, H.: Der Garten der Gesundheit. Medizin im Mittelalter. Arternis, München, - Zürich 1987

Prof: Dr. med. G. Hempelmann Abt. für Anaesthesiologie U. Operative Intensivmedizin KlinikumJustus-Liebig-Universität Klinikstr. 29 6300 Gießen

Heruntergeladen von: NYU. Urheberrechtlich geschützt.

Der Begriff „Streßu hat breiten Eingang in die Umgangssprache gefunden, ohne stets mit wissenschaftlichem Anspruch gebraucht zu werden. Die eigentliche Streßforschung ist nicht auf bestimmte Fachgebiete beschränkt und nimmt auch außerhalb der Medizin breiten Raum ein. Auch die Anästhesiologie " hat sich schon friihzeitig für die Auswirkungen von Narkose und operativem Trauma auf die endokrine Stregreaktion interessiert. Der Stellenwert dieser Reaktion wird jedoch nach wie vor unterschiedlich bewertet. Dazu mag beigetragen haben, daß entsprechende Verandemn~endes Organismus oft unbemerkt a b laufen und kaum e h Patient sych über einen ,,Mangel an Streßabschirmung" beklagt.

[Stress and anesthesia].

Editorial Streß und Anästhesie G. Hempelmann, H. A. Adams' Abteilung &r Anaesthesiologie und Operative Intensivmedizin, Klinikum der Jusms-Liebig-Uni...
100KB Sizes 0 Downloads 0 Views