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Krisenmanagement und langfristige Betreuung

Verdacht auf sexuellen Missbrauch: Was Sie jetzt tun sollten – und was nicht Die Missbrauchsskandale der letzten Jahre in kirchlichen und pädagogischen Institutionen zogen eine breite öffentliche und politische Diskussion nach sich. Weitaus häufiger ereignet sich sexueller Missbrauch aber nach wie vor innerhalb der Familie, oft verbunden mit schweren Folgen für die betroffenen Kinder. Um alles nicht noch schlimmer zu machen, ist es wichtig, die nötigen Schritte im Verdachtsfall zu kennen und typische Fehler zu vermeiden.



Wegschauen oder Fantasieren: Diese beiden Pole könne man häufig beobachten, wenn der Verdacht auf sexuellen Missbrauch aufkommt, sagte Prof. Dr. Michael Kölch, Kinder- und Jugendpsychiater am Vivantes Klinikum in Berlin. Entscheidend seien jedoch eine professionelle Haltung und fundierte Kenntnisse über die nötigen Verfahrensschritte.

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Orientierung am Drei-Stufen-Schema Zunächst sollte man folgende Fragen stellen: Liegt der Fall in der Vergangenheit oder besteht ein akuter Verdacht, der sofortiges Handeln erfordert? Handelt es sich um einen extra- oder intrafamiliären Fall, und besteht Wiederholungsgefahr? Verdachtsmomente können durch Äußerungen des Kindes oder

Hölle zu Hause.

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dessen Bezugspersonen aufkommen, aber auch durch Verhaltensauff älligkeiten, Spuren körperlicher Misshandlung oder im Rahmen familiengerichtlicher Auseinandersetzungen. Grundsätzlich rät Kölch, sich am Drei-Stufen-Schema des Bundeskinderschutzgesetzes zu orientieren: 1. Prüfen, ob die eigenen fachlichen Mittel zur Gefährdungsabschätzung und -abwehr ausreichen. 2. Aktive Inanspruchnahme von Hilfen, z. B. die anonyme Beratung durch erfahrene Fachkräfte. 3. Verständigung des Jugendamts, wenn die Sorgeberechtigten nicht bereit oder in der Lage sind, an der Gefährdungsabwehr mitzuwirken oder wenn dringender Handlungsbedarf besteht.

Keine voreiligen Schlüsse ziehen! Ein häufiger Fehler ist die Annahme, dass es im Missbrauchsfall pathognomonische Verhaltensauff älligkeiten des Kindes gibt. Plötzliches Einnässen oder akut aufgetretene Zwangssymptome nach dem Wochenendbesuch beim getrennt lebenden Vater können zwar ein erster Hinweis auf sexuelle Übergriffe sein, sind jedoch kein Beleg dafür. Auch sexualisierendes Verhalten kann vielerlei Ursachen haben und sollte nicht monokausal gedeutet werden. Ebenso warnte Kölch vor voreiligen Rückschlüssen bei Borderlinepatienten. Zeichnungen und das Spiel mit anatomischen Puppen werden oft zur Gesprächseröff nung verwendet, sind aber nicht als Beweismittel zugelassen. Cave: Sekundäre Traumatisierung Die Exploration des Kindes sollte niemals unter Zeitdruck stattfinden, damit sie nicht im entscheidenden Moment vertagt werden muss. „Empfehlenswert ist eine offene Gesprächsführung ohne Suggestivfragen“, betonte Kölch. Viele Kinder öffnen sich nur unter der Zusicherung, das „Geheimnis“ nicht weiterzuerzählen. Koch warnte jedoch vor falschen Versprechungen, die oft nicht eingehalten werden können, weil z. B. das Kinderschutzgesetz den Arzt zur Weitergabe der Information verpflichten kann. Dies könne zu einem schwerwiegenden Vertrauensbruch zwischen Therapeuten und Kind führen. Das Gespräch sollte mit möglichst viel wörtlicherr Rede genau dokumentiert werden. So vermeide man, dass das Kind bei einem späteren Strafverfahren wieder befragt werden muss und erneut traumatisiert wird. Bei aktuellen Fällen sollte eine körperliche Untersuchung vorgenommen werden, ggf. mit Asservierung entsprechender Materialien. Falsch ist laut Koch die Annahme, dass stets die Strafverfolgungsbehörde einzuschalten ist,



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der Therapeut das weitere Vorgehen über die Eltern und den Betroffenen hinweg bestimmt, jeder Missbrauch therapeutisch aufgearbeitet werden muss, es nie mehr einen Kontakt zum „Täter“ geben darf darf.

Kindeswohl im Zentrum! Auch bei der Begutachtung im Auft rag des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft werden Fehler gemacht, räumte Kölch ein. Dabei muss man sich sowohl an die diagnostischen Standards in der Kinderund Jugendpsychiatrie als auch an die Qualitätskriterien des Bundesgerichtshofs halten. Ratsam ist eine möglichst zeitnahe Erstanamnese, um die Kinder vor wiederholten Vernehmungen zu schützen. Dabei sollte auch ihr Entwicklungsstand berücksichtigt werden. So ist zu erwägen, ob etwa ein fünfjähriges Kind das Sexualwissen, das es äußert, bereits haben kann oder ob dieses auf ein tatsächliches Ereignis hinweist. Besonders schwierig sind Situationen, in denen ein Elternteil den Verdacht auf

sexuellen Missbrauchs im Rahmen eines Umgangsrechtsverfahrens äußert und sich die Wahrheitsfindung durch den Sachverständigen erhofft. Solch eine „Begutachtung en passant“ sei problematisch. Das detektivische Aufspüren eines möglichen Missbrauchs sei nicht die Aufgabe des Experten. „Viel wichtiger bei familiengerichtlichen Verfahren ist die Überlegung, welche Schritte das Kindeswohl sichern, um eine unmittelbare Gefahr abzuwenden.“ So sei abzuschätzen, ob der Kontakt zu dem beschuldigten Elternteil ein direktes Risiko für das Kind darstellt, welche Motivation das Kind für einen Kontakt hat (z. B. Angst, den Elternteil ganz zu verlieren) und auch über welche Resilienzen das Kind verfügt, um sich gegenüber etwaigen Übergriffen zur Wehr zu setzen. Dr. med. Martina-Jasmin Utzt ■ ■ Symposium „Sexueller Missbrauch und Familie“ im Rahmen des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (DGKJP), München, 5. März 2015

Intrafamiliärer Missbrauch

Was Betroffene berichten Als Reaktion auf die Missbrauchsskandale des Jahres 2010 hat die Bundesregierung den Runden Tisch „sexueller Missbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen“ eingerichtet. Ein wichtiges Mosaik bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle waren die telefonische Anlaufstelle und das Online-Hilfeportal für Betroffene. Die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Jörg M. Fegert, Kinder- und Jugendpsychiater am Universitätsklinikum Ulm, hat diese Betroffenenberichte unter dem Blickwinkel „intrafamiliärer Missbrauch“ ausgewertet. Dabei konnten Daten von knapp 1.900 Betroffenen analysiert werden. In dieser nicht-repräsentativen Stichprobe fiel ein deutlicher Frauenüberhang auf. Bei über 90% der Fälle war es zu mehrfachen oder regelmäßigen Übergriffen gekommen. Die Täter waren größtenteils männlich (87%), in über der Hälfte der Fälle handelte es sich um den Vater oder Stiefvater. Häufig berichtete psychosoziale Probleme als Folge des Missbrauchs waren Schmerzen, Leistungsbeeinträchtigungen sowie Schwierigkeiten in der Partnerschaft. Als hinderlich bei der Verarbeitung des Erlebten wurden negative Reaktionen oder Drohungen auf das Hilfegesuch empfunden, die Stigmatisierung durch die Umwelt sowie eigene Schuldgefühle. Professionelle Hilfe betrachteten die Betroffenen dagegen als sehr hilfreich. In den Familien der Anrufer, so Diplom-Psychologin Miriam Rassenhofer, Ulm, fanden sich immer wieder typische Muster, die das Missbrauchsrisiko erhöhen, z. B. intrafamiliäre Konflikte, psychische Erkrankungen, hohes Gewaltpotenzial und Alkoholmissbrauch. Häufig berichtet wurde über ein geringes Vertrauensverhältnis zum nichtmissbrauchenden Elternteil und Strafen bei Offenlegung der Situation. Von der Politik erhoffen sich die Betroffenen mehr Aufklärung, Ausbau der Beratungs- und Therapiemöglichkeiten, Verlängerung der Verjährungsfrist sowie die Übernahme der Behandlungskosten. M.-J. Utzt ■

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[Suspected sexual abuse: what should be done now - and what not].

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