Böhme, Marr: Schwangerschaftsunterbrechung aus psychiatrischer Indikation
865
Dtsch. med. Wschr. 100 (1975), 865-872 © Georg Thieme Verlag, Stuttgart
Schwangerschaftsunterbrechung aus psychiatrischer Indikation K. Böhme
und G. Marr
Psychiatrische und Neurologische Klinik der Medizinischen Hochschule Lübeck (Direktor: Prof. Dr. G. Schmidt)
Zwischen 1947 und 1969 wurden 303 Gutachten in Interruptioverfahren erstattet. 45,20/o der Anträge wurden befürwortet, 53,4°/o abgelehnt. Neurologische Leiden lagen in 10°/o der Fälle vor. 790/o der Frauen boten psychische Störungen, unter denen wiederum mit 890/o reaktive Depressionen bei weitem überwogen. Endogene Psychosen stellten nur eine Randgruppe dar. Bei den reaktiv depressiven Frauen ließen sich jüngere Ledige in der ersten Schwangerschaft mit Umweltkonflikten und höherer Bereitschaft, Suizidabsichten zu äußern, von älteren Verheirateten mit einem oder mehreren Kindern, dem Gefühl drohender Leistungsinsuffizienz entspringender Zukunftsangst und Zurückhaltung in der Formulierung von Selbstmordgedanken als zwei typische Gruppen abgrenzen. Die Häufigkeit vorangegangener Suizidversuche und der Anteil abnormer Persönlichkeitsstrukturen waren in beiden Gruppen gleich hoch. Die untersuchte Gruppe stellt sich eindeutigals suizidgefährdete Risikogruppe dar. Beim Zusammentreffen abnormer Persönlichkeitszüge, früherer Selbstmordversuche und familiärer wie sozialer Konflikte mit aktuellen Suizidimpulsen und einer vitalisierten Depressivität muß vom Gutachter auch die reaktive Depression als wesentliches Kriterium einer befürwortenden Entscheidung gewertet werden. Es kann nicht Aufgabe des psychiatrischen Gutachters sein, dort Pseudobegründungen zu finden, wo die Indikationskataloge somatischer Fächer nicht ausreichen, um auf diese Weise verkappte eugenische oder soziale Indikationen wirksam werden zu lassen.
Termination of pregnancy on psychiatric grounds 303 psychiatric opinions were given between 1947 and 1969 re-
garding the termination of pregnancy. 45,2°/s of the applications were supported, 53,40/e were rejected. In 10°/o of the cases neurological disorders were present. 79°/s of the women had psychiatric disorders among which reactive depressions had a definite majority of 89°/o. Endogenous psychoses only represented a marginal group. Among the reactive depressive group young unmarried women in their first pregnancy with environmental conflicts and an increased readiness to express suicidal tendencies could be separated from a second group of older married women with one or more children, with fear of the future resulting from the feeling of an imminent inability to cope, and restraint in the formulation of suicidal thoughts. The frequency of preceding suicidal attempts and the percentage of abnormal personalities were equally high in both groups. The investigated group must clearly be considered to be a suicide-endangered high risk group. If abnormal personality traits, preceding suicide attempts, family and social conflicts with existing suicidal tendencies, and a reactivated state of depression occur together a reactive depression must also be considered an important criterium for a supportive attitude.
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Nr. 16, 18. April 1975, 100. Jg.
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1.
Verteilung der Anträge zwischen 1947 und 1%9 und gutachtliche Entscheidung
Jahr
1947-1949
1950
1951
Antrag befürwortet abgelehnt
-
9
2
9
Summe
2
Jahr
1954
1955
9
9
7
8
8
10
7
13
12
17
17
19
14
21
13
17
8
1963
1964
1965
1966
1967
1968
1969
Summe
1952
1953
7
7
7
10
18
14
1960
1961
1962
1956
1957
1
1958
1959
5
4
12
4
Antrag
befürwortet abgelehnt
5
7
8
6
12
6
7
5
6
9
137
14
2
8
10
7
5
2
6
8
6
162
19
9
16
16
19
11
9
11
14
15
299
Summe
mit vollem Recht darauf hingewiesen, daß der gut informierte erstbehandelnde Arzt die Motivation der Schwangeren entscheidend beeinflussen kann. Mangel an Zivilcourage, unbedachte Äußerungen (10) und unreflektiertes Mitleid (27) werden auch - oder gerade dann den erstbehandelnden Arzt treffen, wenn die Fristenlösung einmal Gesetzeskraft erlangen sollte, dann nämlich könnte die Entscheidung am inkompetentesten Glied hängen bleiben, der Schwangeren in einer akuten Krisensituation, in der sie nicht unreflektierter Zustimmung, sondern abgewogenen Rates bedarf.
Ergebnisse In den 23 Jahren der Beobachtungszeit wurden insgesamt 303 Gutachtenaufträge bearbeitet. Sieht man davon ab, daß in den Jahren bis 1949 aus äußeren Gründen nur wenige Gutachten aus der Klinik kamen, so verteilen sich die Fälle über die folgenden zwei Jahrzehnte regellos, ohne Tendenz im Sinne von Zu- oder Abnahme (Tabelle 1).
Befürwortet wurden 137 Anträge (45,2%), abgelehnt 162 Anträge (53,5%). Vier Anträge gingen wegen sachlicher oder formaler Unklarheiten unentschieden an die Gutachterstelle der Ärztekammer zurück. Auch in der Gesamtentwicklung findet sich keine signifikante Veränderung im Verhältnis zwischen befürworteten und abgelehnten Anträgen. Betrachtet man zusätzlich zu Altersverteilung der Antragstellerinnen und Familienstand (Tabelle 2) auch die Kinderzahl, so ergibt sich, daß der weit überwiegende Teil der Frauen im dritten (122 = 40,3%) und vierten (125 = 41,2%) Lebensjahrzehnt stand. Ledig waren 78 (25,7%) Frauen, verheiratet 206 (68%), verwitwet oder geschieden 19 (6,3%). Dabei verschiebt sich das Verhältnis ledig/verheiratet von 45 71 im dritten Lebensjahrzehnt auf 3 : 113 im vierten. Von den 78 ledigen Frauen hatten nur 14 schon ein oder mehrere Kinder; von 81% der Ledigen wurde der Antrag also in der ersten Schwangerschaft gestellt. Dagegen führte bei den
(4unentschieden)
Verheirateten die erste Schwangerschaft nur in 2,4% der Fälle zu einem Antrag auf Unterbrechung. 19,4% der Verheirateten hatten ein Kind, 31% zwei, 18% drei, 28% vier und mehr Kinder. Tab. 2. Alrersverteilung, geordnet nach Familienstand Familienstand Alter (Jahre)
ledig
ver-
heiratet
geverwitwet schieden
Summe
19
29
-
-
-
29
20-29
45
71
2
4
122
31)-39
3
113
4
S
125
40-49
1
22
3
1
27
206
9
10
Summe
78
303
Naturgemäß spielten hei der Anamnese-Erhebung frühere Schwangerschaftskomplikationen, Spontanaborte und Schwangerschaftsunterbrechungen eine wesentliche Rolle. 45% aller Patientinnen berichteten von gynäkologischen oder internistischen Schwangerschaftskomplikationen in einer der früheren Schwangerschaften (Tabelle 3). Aborte und Unterbrechungen führen die Liste der Komplikationen an. 28% aller begutachteten Frauen hatten also schon eine Schwangerschaft nicht mit der Geburt eines lebenden Kindes beendet. Tab. 3. Gynäkologische und interne Komplikationen hei früheren Schwangerschaften gynäkologische internistische
Abort
Summe
lnterruptio Erkrankung
58
28
25
22
133
Die Objektivierung psychischer Störungen im Verlaufe früherer Schwangerschaften bereitete größere Schwierig-
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Tab.
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Deutsche Medizinische Wochenschrift
Böhme, Marr Schwangerschaftsunterbrechung aus psychiatrischer Indikation
Tab. 4. Psychische Störungen im Verlauf früherer Schwangerschaften Familienstand
Psychose
fehlende Angaben
Summe
endogene Psychose
Wochenbett- reaktive psychose Depression
Antrag befürwortet
40
1
43
10
3
7
S
1
27
137
Antrag abgelehnt
32
-
72
4
-
7
8
-
39
162
-
-
3
1
-
-
-
-
-
4
72
1
118
15
3
14
13
1
66
303
Antrag unentschieden
keiten. Oft waren die Schilderungen unscharf, allgemein oder durch den aktuellen Zustand der Patientin gefärbt. Daher mußten rund 20% der Fälle ausgesondert und der Rubrik »fehlende Angaben« zugeschlagen werden. Tabelle 4 zeigt den Überblick. Demnach litten 34 Frauen bei einer früheren Schwangerschaft unter psychischen Störungen oder Krankheiten, aber in nur 14 Fällen hatte eine reaktive Depression bestanden. Rein neurologische Komplikationen waren früher immerhin in 10% der Fälle aufgetreten. Von den angegebenen Beschwerdebildern, die Anlaß der hier erfaßten Begutachtung waren, fielen wiederum 10% in den rein neurologischen Bereich (multiple Sklerose, Epilepsie, Polyneuropathie usw.), 90% betrafen den psychiatrischen Sektor, zusätzlich klagten 20% der Frauen über interne, gynäkologische und andere Symptome. Bei 236 Frauen (78%) konnte in der Begutachtung eine psychische Krankheit oder Störung diagnostiziert oder bestätigt werden. In Tabelle 5 sind die psychiatrischen Krankheitsgruppen dem Ausgang der Begutach-
tung gegenübergestellt. Mit 73% bildeten reaktive Depressionen den Schwerpunkt, endogene Psychosen standen dagegen mit nur 5% fast am Rande. Bemerkenswert ist hier bereits, daß bei 24 der 61 Ledigen mit einer reaktiven Depression, also in 39%, vom Gutachter Selbstmordgefahr angenommen wurde, dagegen nur bei 23 der 135 reaktiv depressiven Verheirateten (17%). Bei rund 90% der Frauen, bei denen im Zusammenhang mit einer reaktiven Depression Selbstmordgefährdung diskutiert wurde, stimmte der Gutachter dem Antrag zu. In einem Falle wurde die Selbstmordgefährdung bei einer ledigen Schwangeren unterschätzt, von ihr wissen wir, daß sie nach der Ablehnung ihres Antrages Selbstmord begangen hat. 29 (knapp 10%) hatten früher schon einen oder mehrere Suizidversuche unternommen, bei 16 von ihnen wurde der laufende Antrag befürwortet. Diesem überdurchschnittlich starken Auftreten suizidaler Verhaltensweisen entsprach auch ein hoher Anteil abnormer Persönlichkeitsentwicklungen und abnormer Persönlichkeitsstrukturen. Bei 53 Frauen fanden sich entsprechende Fest-
Tab. 5. Psychische Komplikationen im \'erlaufe der zur Begutachtung führenden Schwangerschaft Familienstand
endogene
psychiatrische Diagnose
Psychose
geschieden und
verheiratet
ledig
reaktive Depression
ç5
endogene Psychose
Summe
verwitwet reaktive Depression
reaktive postDepression traumatisches Psycho-
syndrom
Antrag befürwortet
3
2
39
16
12
54
1
2
8
137
Antrag abgelehnt
9
-
25
34
1
84
-
2
7
162
Antrag unentschieden
-
-
-
1
-
3
-
-
-
4
12
2
64
51
13
141
1
4
15
303
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endogene
endogene Psychose
Diagnose
verwitwet und geschieden
verheiratet
ledig
Tab. 6. Schwerpunkte in der subjektiven Begründung des Wunsches nach Unterbrechung der Schwangerschaft (+ = Antrag abgelehnt) ledig
Einzelfaktoren
869
Bdhme, Marr: Schwangerschaftsunterbrechung aus psychiatrischer Indikation
verheiratet
+
+
Angst vor gesellschaftlichen Sanktionen
35
21
1
verwitwet
= Antrag befürwortet,
geschieden
+
--
Summe
+
Vorwurf der Eltern
25
20
-
-
ungünstiges soziales Milieu
5
12
19
40
-
2
2
1
26
55
ungünstige familiäre Verhältnisse
16
17
12
30
1
2
1
3
30
52
Geburt
6
2
49
47
-
-
-
-
55
49
Versagensangst gegenüber der Erziehung des Kindes
9
4
51
78
2
2
3
2
65
86
Summe der Merkmale
96
76
132
195
5
8
9
10
242
289
Versagensangst gegenüber der Gravidität und
stellungen in den Gutachten. Von ihnen zeigten nicht unerwartet knapp die Hälfte (48%) die Merkmale einer asthenischen Persönlichkeitsstruktur. Debilität und Imbezillität lagen bei 5O/, der Frauen vor, spielten jedoch mit Ausnahme zweier imbeziller Frauen, deren Anträge befiirwortet wurden, bei der gutachtlichen Entscheidung nur eine untergeordnete Rolle. Die subjektive Begründung des Wunsches nach einer Unterbrechung der Schwangerschaft spiegelte in erster Linie die individuelle Gewichtung peristatischer, körperlicher und seelischer Belastungsmomente wider. Angst vor gesellschaftlicher Geringschätzung, Vorwurfshaltung der Eltern bei ledigen Schwangeren, spannungsreiche Partnerbeziehungen in der eigenen oder der elterlichen Familie, schlechte soziale Verhältnisse, Kinderzahl, Versagensangst gegenüber den Belastungen der Schwangerschaft, der Geburt oder der Erziehung des erwarteten Kindes waren Faktoren, die sich aus dem vorhandenen Material mit hinreichender Genauigkeit ermitteln ließen. Tabelle 6 gibt den Uberblick. In dieser Zusammenstellung lassen sich zwei Schwerpunkte ohne weiteres erkennen: In der Motivation der ledigen Frauen spielen gesellschaftliche und familiäre Gesichtspunkte eine entscheidende Rolle, bei den verheirateten Frauen kommt die subjektiv empfundene Belastung weit überwiegend aus der Angst um das Durchstehen der Schwangerschaft und der Erziehung des Kindes. Der Versuch, auch aus der Einstellung zum Vater des Kindes zusätzliche Belastungs- oder Kompensationsfaktoren zu gewinnen, lieferte wegen eines relativ hohen Anteils fehlender Angaben nur grobe Orientierungswerte. Bei den Ledigen hielten sich positive und indifferent/negative Einstellungen mit 25/26 die Waage, bei den Verheirateten überwogen die positiven Einstellungen mit 82/34. Relativ größer war dementsprechend
2
1
3
3
41
25
-
1
-
1
25
22
bei den Ledigen auch die sexuelle Aversion (32 Frauen) im Vergleich mit den Verheirateten (42 Frauen). Hier dürften bei den Ledigen sexuelle Unerfahrenheit und Projektion einer generellen Abneigung in die Sexual-
sphäre kumulieren. Die Haltung vorhandenen Kindern gegenüber wurde fast von allen Frauen als positiv dargestellt, nur eine Ledige und zwei Verheiratete äußerten sich distanziertabweisend. Diametral entgegengesetzt wurde von den Ledigen die erwartete Bindung an das ungeborene Kind eingeschätzt. 69 Frauen drückten ihre Abwehr deutlich aus, nur neun Frauen fanden positive Formulierungen. Nicht ganz so kraß verhielten sich die Verheirateten, aber auch hier wehrten 153 Frauen das erwartete Kind ab, und nur 47 standen ihm in positiver Erwartung gegenüber. In Tabelle 7 ist die abschließende diagnostische Einordnung der 303 Frauen aufgeschlüsselt und die Entscheidung über den Antrag auf Schwangerschaftsunterbrechung angegeben.
Diskussion Ausgehend von einer an somatischen Krankheiten orientierten Regelung von Schwangerschaftsunterbrechungen ausschließlich nach medizinischen Indikationen hat sich auch in der Psychiatrie die Diskussion um den Katalog möglicher Unterbrechungsgründe zunächst weitgehend auf den Bereich der endogenen Psychosen konzentriert. Die relative nosologische Geschlossenheit der manischdepressiven Krankheit und der Schizophrenien bot eine den somatischen Krankheiten analoge Wertungsebene an. Unter dem Gesichtspunkt, daß positive Indikationskriterien um so strenger sein können, je exakter Diagnose und Prognose zu definieren sind, kam eine Reihe
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Deutsche Medizinische Wochenschrift
Röhme, Marr: Schwangerschaftsunterbrechting aus psychiatrischer Indikation
Tab. 7. Abschließende diagnostische Einordnung und Entscheidung
endogene Psychose
reaktive Depression
posttraumatisches Psychosyndrom neurologische Erkrankung frei von neurologisch-psychiatrischen Erkrankungen
Antrag befürwortet
Antrag abgelehnt
Antrag nicht entschieden
Summe
14
1
-
15
101
116
3
220
-
1
-
1
26
6
-
32
0
34
1
35
4
303
141
158
(46,5%)
(52,1%)
von Autoren schon früh zu der Ansicht, daß eine psychiatrische Indikation zur Schwangerschaftsunterbrechung bei manisch-depressiven Psychosen und Schizophrenien nur in sehr seltenen Fällen gegeben sei (6, 12, 15, 16, 25, 28). Dennoch ist unbestritten, daß sich im In- und Ausland in den letzten Jahrzehnten eine Verlagerung des Schwerpunktes innerhalb der medizinischen Indikationen vom Somatischen zum Psychischen abzeichnet (1, 2, 11, 19, 20). Berücksichtigt man einschränkend, wie wenig sich der Psychopathiebegriff im Sinne Kurt Schneiders (21) aus grundsätzlichen Erwägungen als entscheidender Baustein einer psychiatrischen Indikation eignet, so mußte sich das Schwergewicht der Diskussion zwangsläufig in den Bereich erlebnisreaktiver Störungen hineinverlagern, auf die Bewertung reaktiv depressiver Zustandsbilder und der nichtpsychotischen Suizidalität (6, 16, 19, 20, 29). Von den im Beobachtungszeitraum an der Lübecker Klinik untersuchten 303 Patientinnen kamen nur 32 wegen eines neurologischen Leidens zur Begutachtung, alle übrigen unter Verdachtsdiagnosen, die eine psychische Krankheit unterstellten. Aber nur in 2.36 Fällen ließ sich dann tatsächlich eine psychische Störung überhaupt mit Sicherheit fassen. 35 Frauen waren frei von psychiatrisch-neurologisch relevanten Krankheitszeichen. Sie klagten über andere Beschwerden, meist aus dem gynäkologischen oder internen Bereich, ohne daß von daher jedoch eine Indikation zur Unterbrechung hatte gestellt werden können. Bei Durchsicht der Befunde konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, als seien sie gleichsam ex juvantibus zum Psychiater geschickt worden. Von den Patientinnen mit neurologischen Erkrankungen boten 81% ein Krankheitsbild, das eine Befürwortung des Unterbrechungsantrages notwendig machte. Dies kann im wesentlichen auf eine zutreffende diagnostische Einordnung vor Stellung des Antrages zurückgeführt werden. Teilweise im Gegensatz zu anderen Gutachtern befürworteten wir bei sieben von acht Frauen mit einer endogenen Depression die Unterbrechung. Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, daß an der Lübecker Klinik die nosologische Einheit endogene Depression
immer eng definiert und nur bei anamnestisch sicher phasenhaft verlaufenden monopolaren oder bipolaren Depressionstypen ohne zeitlichen Zusammenhang mit Graviditäten, nicht jedoch bei einer erstmals in der zur Begutachtung führenden Schwangerschaft aufgetretenen vitalisierten Verstimmung angenommen wurde. Zum anderen birgt jede endogen-depressive Phase selbstverständlich ein erhöhtes Selbstmordrisiko in sich, und wir meinen, daß gerade durch eine Schwangerschaft Insuffizienzgefühle und Selbstvorwürfe bei der Depressiven in einer massiven und schwer abschätzbaren Weise aktualisiert und psychologisch einfühlbar aufgeladen werden können, ohne daß die Kranke imstande wäre, Handhaben zu deren Abbau zu entwickeln. Sicher beobachtet man auch immer wieder, daß der Gedanke an eine Schwangerschaftsunterbrechung oder die Unterbrechung selbst Inhalt depressiv überhöhter Selbstvorwürfe werden kann; dann wäre eine Befürwortung ohne Zweifel sehr problematisch. Stehen jedoch Erwartungsangst und Insuffizienzgefühl in der zuerst angesprochenen Weise im Vordergrund, so sollten sie ein Kriterium der Befürwortung sein. Auch die Frage der Erblichkeit des eigenen Leidens wird von endogen-depressiven Schwangeren häufig überschätzt und geht ein in die selbstquälerische Sorge, ein krankes Kind zur Welt zu bringen. Auch in allen vier Fällen, in denen die Schwangerschaft einen schizophrenen Schub ausgelöst hatte, wurde die Unterbrechung befürwortet. Die Fallzahl ist zu klein, um grundsätzliche Erörterungen anknüpfen zu können. Da aber entweder eine depressive Komponente hineinspielte, die Wahnthematik das Kind einbezog oder ein psychotischer Defekt Kompensationsversuche der reakriven Belastungsmomente verhinderte, schien die Unterbrechung der Schwangerschaft das einzig hinreichend sichere Mittel, die Schwangere vor einer weiteren Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes oder vor dem Suizid zu schützen. Im Grunde bildeten aber auch bei unseren Untersuchungen die endogenen Psychosen nur eine Minderheit, denn 93% der psychiatrischen Fälle boten die Zeichen einer reaktiven Depression. Glaus (8) und Aresin (2) beschrieben ähnliche Relationen.
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Diagnose
Böhme, Marr Schwangerschaftsunterbrechung aus psychiatrischer Indikation
Diagnostische Abgrenzung und gutachtliche Gewichtung reaktiver Depression bilden schon lange ein Feld kontroverser Meinungen von der extrem ablehnenden Haltung (12, 26) bis zur weitgehenden Anerkennung als fakultativer Unterbrechungsindikation (3, 22, 24, 30). Bei der Aufschlüsselung unserer Erhebungen ließen sich zwei große Gruppen reaktiv-depressiver Frauen recht gut voneinander abgrenzen. Zur Begutachtung kamen einmal unverheiratete Frauen im dritten Lebensjahrzehnt. Sie waren weit überwiegend zum erstenmal schwanger und beschrieben als depressionsauslösende Faktoren im allgemeinen krisenhaft durch die außereheliche Schwangerschaft entstandene familiäre oder gesellschaftliche Konflikte. Ihr Verhältnis zum Kindesvater war häufig neutral bis ablehnend. Die Konfrontation mit gesellschaftlichen Vorurteilen, auch bei den Eltern, weckte in ihnen die Furcht vor einem Leben in der Isolierung und vor den Schwierigkeiten, als ledige Mutter künftig noch einen geeigneten Partner zu finden. Entsprechend deutlich formulierten sie ihre Abwehr dem Kind gegenüber. Die zweite große Gruppe bestand aus verheirateten Frauen im vierten Lebensjahrzehnt, die bereits ein oder mehrere Kinder hatten. Gesellschaftliche Gesichtspunkte spielten als Teilbegründung keine Rolle. Dagegen traten hier wirtschaftliche und gesundheitliche Argumente in den Vordergrund und damit die Angst, der Schwangerschaft und der Erziehung eines weiteren Kindes nicht mehr gewachsen zu sein. Während die unverheirateten jüngeren Frauen öfter gereizt und vorwurfsvoll aggressiv argumentierten, boten die älteren verheirateten Frauen mehr das Bild matt-hilfloser Resignation. Gemeinsam war beiden Gruppen der hohe Anteil asthenischer Primärpersönlichkeiten. Binder (3), Wyss (30) und Schrappe (22) hatten bereits darauf hingewiesen, daß insbesondere seibstunsichere, labile, infantile, reizbare und hypochondrische Frauen eine legale Schwangerschaftsunterbrechung in Anspruch nehmen wollen. Der Anteil depressiver Persönlichkeiten war dagegen analog einer Feststellung Kurt Schneiders (21) auch in unserem Beobachtungsgut auffallend gering.
Hatten die Untersuchungsergebnisse von Roth (20) 51,7% ledige und 14,9% verheiratete reaktiv Depressive - noch darauf hingedeutet, daß der Familienstand als mitverursachender Faktor in die Genese einer reaktiven Depression eingehen könnte, so sprechen un-
-
sere Befunde eher dagegen: 78% der Ledigen, 66% der Verheirateten. In beiden Gruppen sind ja auch Persönlichkeitsstrukturen und Ausmaß des depressionsauslösenden situativen Drucks nach unseren Erfahrungen durchaus vergleichbar. Es hat sich lediglich das Konfliktfeld verschoben, und es bedarf bei den älteren verheirateten Frauen wohl auch intensiver expioratorischer Bemühungen, um sie zum Abbau einer erwartungskonformen Fassade zu bewegen. Es muß der verheirateten Frau schwerer fallen, die eigene Familie, den Ehemann und die Kinder, an die sie im Grunde doch positiv gebunden ist, nun plötzlich als Belastungsmomente zu definieren. Der ledigen Schwangeren fällt es ungleich leichter, in
871
einem Zufallsbekannten, einem treulosen Geliebten oder dem pauschalen Vorurteil der Umgebung griffige und subjektiv überzeugende Aggressionsziele zu sehen. Die unterschiedliche Ausgangsposition beider Gruppen wird auch in der Ausformulierung autoaggressiver Tendenzen deutlich. Bei 39% der Ledigen, aber nur bei 17% der Verheirateten ließen sich Selbstmordgedanken und Selbstmordankündigungen nachweisen. Es besteht also hier eine größere Diskrepanz, als sie nach dem Anteil reaktiver Depressionen in beiden Gruppen hätte erwartet werden können. Das Gefühl der sozialen Verpflichtung und emotionalen Gebundenheit setzt der Mutter einer Familie wahrscheinlich auch in der Ausformulierung von Suizidgedanken enge Grenzen. Greift man nämlich nur die Frauen mit einer deutlich abnormen Persönlichkeitsstruktur heraus, also diejenigen, von denen anzunehmen ist, daß Persönlichkeitsstörungen äußerlich belastende Momente aufwiegen oder zumindest in ihrem pathogenen Stellenwert relativieren, so gleichen sich die Häufigkeiten, in denen Suiziddrohungen auftreten, wieder an (Ledige 5%, Verheiratete 4,8%). Auch die Anzahl vorangegangener Selbstmordversuche als Hinweis auf eine latente Suizidalität differiert zwischen beiden Gruppen entsprechend wenig (Ledige 11,5%, Verheiratete 8,2%), obgleich man hier schon wieder berücksichtigen sollte, daß ledige junge Frauen aus den schon diskutierten Gründen möglicherweise eher über frühere Suizidversuche sprechen als verheiratete und unsere Daten allein auf anamnestischen Angaben beruhen. Es stellt sich nun die entscheidende Frage, ob eine latente oder offene Suizidalität als hinreichend schwere Gefährdung des mütterlichen Lebens angesehen und damit die Befürwortung einer Schwangerschaftsunterbrechung begründet werden kann. Wyss (30) meint, daß in einer unerwünschten Schwangerschaft die Mehrzahl der Frauen relativ depressiv und suizidal sei, und Bräutigam (5) sieht für viele dieser Frauen die Selbsttötung als die radikalste Lösung an, die Welt und damit das Konfliktfeld zu verlassen. Autoren, die reaktive Depressionen als Indikation völlig negieren, berufen sich gerne darauf, daß ihnen kein Fall eines erfolgreichen Suizids nach Ablehnung eines Antrages bekanntgeworden sei (12, 13). Untersuchungen von Strasser (27) Harrington (9) und Otto (17) weisen aber doch auf ein erhöhtes Suizidrisiko hin. Wir sind auch mit Bolter (4) und Hofer (10) der Meinung, daß bei insgesamt seltenen Ereignissen, wie einem Suizid, statistische Wahrscheinlichkeiten als Entscheidungsgrundlage niemals ausreichen können. Denn selbst wenn die Selbstmordrate schwangerer Frauen nicht höher wäre als in der Durchschnittsbevölkerung, kann die Gravidität in dieser Zeitspanne für diese Frau ein entscheidendes Motiv sein, latent autoaggressive Strebungen zu realisieren. Daß sie es auch aus anderen Gründen zu anderen Zeiten tun könnte, steht nicht zur Debatte. Die hohe Quote von abnormen Persönlichkeiten, vorangegangenen Selbstmordversuchen, Selbstmorddrohungen, gestörten Partnerbeziehungen, wirtschaftlichen und sozialen Konflikten
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Nr. 16, 18. April 1975, 100. Jg.
Böhme, Marr: Schwangerschaftsunterbrechung aus psychiatrischer Indikation
in unserer Untersuchungsgruppe macht deutlich, daß es sich um eine Risikogruppe handelt. Diesem Gesichts-
punkt muß bei der gutachterlichen Entscheidung Rechnung getragen werden. Tritt dazu eine vitalisierte depressive Verstimmung, die sich anamnestisch und psychopathologisch eindeutig fassen läßt, so wird gerade der erfahrene Gutachter eine Befürwortung des Antrages auch bei einer »nur'< reaktiv depressiven Frau ernsthaft zu erwägen haben, ohne sich dem Vorwurf aussetzen zu müssen, er rede »unter dem Deckmantel der Seelenheilkunde« (20) einer sozialen oder andersartigen Indikation das Wort. Natürlich bieten sich als wünschenswerte Alternative zur Interruptio psychotherapeutische Betreuung und Verbesserung der sozialen Bedingungen an (14, 18). Solange derartige Einrichtungen aber nur in begrenzter Zahl mit bescheidener personeller Ausstattung und langen Wartezeiten meist nur in Großstädten existieren, solange psychiatrische Krisenintervention für den überwiegenden Teil der Bevölkerung mehr Wunsch als Wirklichkeit ist, bleibt dem Gutachter keine andere Wahl, als sich in seiner Entscheidung von der Schwere des aktuellen Befundes bestimmen zu lassen, will er nicht Gefahr laufen, das Leben der Schwangeren zu gefährden. Literatur Anderson, E. W.: Psychiatric aspects of abortion. Proc. Third World congress of Psychiatry (1961), 1169. Aresin, L. Zur Schwangerschaftsunterbrechung aus neuropsychiatrischer Sicht. Dtsch. Gesundh.-Wes. 9 (1964), 223S.
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Privatdozent Dr. K. Böhme, Dr. G. Marr Psychiatrische und Neurologische Klinik der Medizinischen Hochschule 24 Lübeck, Ratzeburger Allee 160
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