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Die neue Euthanasie-Diskussion aus psychiatrischer Sicht H. Lauter', J E. Meyer 2 1 Psychiatrische

Klinik rechts der Isar der Technischen Universität München Psychiatrische Klinik der Universität Göttingen

The new Discussion on Euthanasia a Psychiatrie Approach

Zusammenfassung

The practice to kill terminally ill patients on their own demand has resulted in the Netherlands in a decriminalisation of active euthanasia which thus has fundamentally changed the way to deal with dying patients. Sooner or later this development will extend to other European countries as weil as to the USA. lnvoluntary euthanasia of severely handicapped newborn children or of demented persons is propagated by the practical ethics of P. Singer and other representatives of utilitarianistic philosophy. According to the standpoint of utilitarianism a human being should only have the right to live as long as he or she is aperson, i. e. has rationality and self-consciousness. The next step toward the elimination of elderly people can easily be predicted. For economical reasons these persons may be withheld from lifesaving medical treatment or may be supposed to commit suieide. A moral pressure is created to make adecision for suicide as soon as severe invalidity occurs. The consideration of such ideas shows that in today's debate on euthanasia the issue is no longer the right of a few severely and terminally ill human beings to their "own death". Instead, the right to live of a large group of handicapped and "socially useless" or "unproductive" persons is at stake. This is the danger of today's discussion of euthanasia.

Mit der Freigabe der Tötung auf Verlangen hat in Holland bereits eine Entkriminalisierung der aktiven Euthanasie eingesetzt, welche die bis dahin übliche Sterbehilfepraxis grundlegend verändert hat. Über kurz oder lang wird diese Entwicklung auch auf andere europäische Länder und amerikanische Bundesstaaten übergreifen. Der unfreiwilligen Euthanasie schwerbehinderter Neugeborener oder dementer Personen ist durch die praktische Ethik Singers und anderer Vertreter des Utilitarismus der Weg bereitet. Einen Schutz des Lebensrechts sollen Menschen aus der Sicht des Utilitarismus nur dann genießen können, wenn sie Personen sind, d. h. über Rationalität und Selbstbewußtsein verfügen. Darüber hinaus ist die Eliminierung alter Menschen bereits vorgezeichnet, denen ohne Rücksicht auf ihre individuellen Wünsche aus Gründen ökonomischer Rationalisierung lebensrettende medizinische Behandlungsmöglichkeiten vorenthalten werden sollen oder für die alternativ eine fremdbestimmte Selbsttötung vorgesehen ist. Es wird ein moralischer Erwartungsdruck erzeugt, sich beim Eintritt einer schweren Behinderung zur Selbsttötung zu entschließen. Wenn solche planerischen Vorstellungen überhaupt ins Auge gefaßt werden, so zeigt dies, daß es bei der heutigen Sterbehilfedebatte gar nicht mehr um das Recht einiger weniger schwerkranker und sterbender Menschen auf ihren eigenen Tod geht, sondern daß das Lebensrecht einer sehr großen Gruppe behinderter und für den Produktionsprozeß unbrauchbarer Menschen auf dem Spiel steht. Darin besteht die große Gefahr der heutigen neuen Euthanasie-Diskussion.

Die Diskussion um das Thema der Euthanasie, welche in den letzten 10 Jahren in Gang gekommen ist (3,4,6, 14,17,23,29,33,34,36,37,42 u.a.), fordert auch den Psychiater zu einer Stellungnahme heraus. Dabei geht es weder um reine Sterbehilfe, also um Hilfe beim Sterben durch ärztlich-pflegerische Maßnahmen, Schmerzlinderung und mitmenschlichen Beistand, noch um die Verkürzung des Sterbeprozesses durch Abbruch oder Unterlassung lebenserhaltender Maßnahmen oder als unbeabsichtigte Nebenfolge leidensmindernder Behandlungsverfahren. Auch die Frage der Suizidbeihilfe soll trotz ihrer engen Berührungspunkte zu dem Problem der Sterbehilfe in unseren Überlegungen unberücksichtigt bleiben. Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich vielmehr ausschließlich mit aktiven ärztlichen Tötungshandlungen, die auf ausdrückliches Verlangen schwerkranker und sterbender Patien-

ten erfolgen (aktive Euthanasie) oder mit der absichtlich herbeigeführten Beendigung menschlichen Lebens, das nach Meinung anderer Personen keinen Sinn mehr hat, ohne daß die Betroffenen selbst - z.B. schwer körperlich oder geistig behinderten Neugeborene - hierzu befragt werden können (nichifreiwillige Euthanasie). Darüber hinaus wird sich unsere Diskussion aber auch auf das Thema der unfreiwilligen Euthanasie ausdehnen müssen; sie liegt dann vor, wenn die getötete Person zwar in der Lage ist, zur eigenen Lebensbeendigung Stellung zu nehmen, aber entweder nicht gefragt wird oder eine solche Maßnahme ablehnt.

Fortsehr. Neuro!. Psychiat. 60 (1992) 441-448 © Georg Thieme Verlag Stuttgart . New York

Aktive Euthanasie - die SterbehiJfepraxis in HoUand Während das Sterbenlassen eines Patienten auf der Grundlage freigewählten Behandlungsverzichts ebenso wie die indirekte Euthanasie unter bestimmten Umständen als mo-

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Fortschr. Neurol. Psychiat. 60 (1992) raliseh erlaubt und rechtlich zulässig gilt, stellt die Tötung auf Verlangen nach der Gesetzgebung und Rechtsprechungspraxis der Bundesrepublik eine strafbare Handlung dar. Demgegenüber hat sich eine Gruppe von Strafrechts- und Medizinprofessoren in der Bundesrepublik Deutschland 1986 in einem Alternativentwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe (AE-Sterbehilfe) u. a. dafiir ausgesprochen, im Rahmen einer Ergänzung des § 216 StGB zwar an der Rechtswidrigkeit der Tötung aufVerlangen festzuhalten, in Extremfällen aber einen Strafverzicht vorzusehen (6). Weitere Vorschläge zur Neufassung des § 216 StGB gehen über die AE-Sterbehilfe sogar teilweise erheblich hinaus; hierzu gehören Gesetzesentwürfe von Klug (30), der Humanistischen Union. der Deutschen Gesellschajt fiir Humanes Sterben (12) sowie - in mehreren Versionen - von Hörster (25,26,27). Von den Verfechtern der aktiven Euthanasie werden verschiedene Gründe dafür angegeben, warum der direkten Herbeifiihrung des Todes der Vorzug gegenüber dem passiven Geschehenlassen des Sterbens zu geben sei. Das Sterben ziehe sich im Fall der passiven Euthanasie manchmal sehr lange hin und stelle dann für den Betroffenen und seine Familie eine schwere Belastung dar. Der rasche und zuverlässige Wirkungseintritt der aktiven Eutanasie könne hingegen dem Patienten einen Qualvollen Sterbeprozeß ersparen (7). Eine derartige aktive Maßnalune sei daher oft der einzig humane und moralisch angemessene Weg zur Herbeiführung des Todes (21,39). Die gesetzliche Freigabe der Tötung auf Verlangen bringe ärztliche Handlungsweisen unter öffentliche Kontrolle, die sonst im geheimen geschähen (39). Das Problem des menschenwürdigen Sterbens dürfe nicht durch starre, unzeitgemäße Prinzipien verschleiert werden, die der individuellen Bedeutung von Leben und Tod im Dasein eines Menschen nicht Rechnung tragen und wenig Bezug zu dem Patienten haben, denen wir als Ärzte verpflichtet seien (10). Wie vor allem von philosophischer Seite betont wird (22), verlangt der Respekt vor der Person des Kranken, daß man dessen Todesverlangen Rechnung trage und die Erflillung eines solchen Wunsches nicht durch eine ärztlich-paternalistische Ilaltung verhindere. Das wesentliche Bestimmungskriterium einer Person sei die Fahigkeit, dem eigenen Leben einen individuellen Wert zu verleihen. Der konkrete Inhalt dieses Wertes sei sehr unterschiedlich. Aber gerade in der Verwirklichung solcher verschiedenartiger Wertvorstellungen, Wünsche und Zielsetzungen drücke sich die individuelle Autonomie einer Person aus. Diese Autonomie müsse von anderen auch dann unbedingt geachtet werden, wenn ein Mensch seinem Leben einen negativen Wert beimesse und sein Leben nicht fortsetzen wolle (22). In solchen Fällen sei es moralisch richtig, der betrem~nden Person bei der Durchftihrung eines Suizids zu helfen oder ihrem Fremdtötungsverlangen zu entsprechen.

H. Lauter, 1. E. Meyer und eine Sichtweise vertreten worden, die dem Menschen absolute Autonomie in allen Entscheidungen zusichert. In einer Zeit, in der sich die Menschen stärker als früher ihrer vie1f

[The new euthanasia-discussion from the psychiatric viewpoint].

The practice to kill terminally ill patients on their own demand has resulted in the Netherlands in a decriminalisation of active euthanasia which thu...
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