Klin. Wschr. 55, 827-834 0977)

Klinische Wochenschrift © by Springer-Verlag 1977

Der Arzt und seine Umweit* tt.E. Bock Medizinische Universit~its-Klinik Tiibingen

The Physician and his Environment

Wenn im Gesamtthema ,,Der Mensch und sein Lebensraum - Eingriff und Wandel" die Variation ,,Der Arzt und seine Umwelt" auftaucht, dann m6chte der Vorsitzende als Arzt versuchen, dem Auftrag unserer Gesellschaft zu entsprechen. Alfred Kfihn hat ihn 1938 auf der Stuttgarter Tagung so umrissen: 1. Rechenschaft abzulegen vom Gang der Wissenschaft, auch dem Laien, 2. zur Uberwindung des Spezialistentums beizutragen in einer Zeit notwendiger Spezialisierung, 3. Brficken zu schlagen zu neuer fruchtbarer Zusammenarbeit. Adolf Butenandt hat auf der Essener Tagung 1952 noch einen weiteren wichtigen Punkt genannt: Die uns gesetzten Grenzen im Erreichbaren zu erkennen und daraus die notwendigen Folgerungen zu ziehen. Der Internist empfindet diesen Auftrag ats besonders dringlich, da sich auf medizinischem Gebiet besonders viel Wandlungen durch 5_rztliches Eingreifen - und Begreifen - vollzogen haben, in 40 Jahren mehr als in 4 Jahrtausenden Medizingeschichte, seit dem Einsatz der Ephedra vulgaris des Botanikers Ma Huang mit der heute noch aktuellen Indikationsstellung Kreislaufschwfiche, Husten (2760 v.Chr, dem Kaiser Chen Nung zugeschrieben). Eingriff droht zum Ubergriff zu werden, wenn wir uns nicht am Entwurf des Menschen orientieren, sondern ihn beliebiger Manipulation und unbedachter Mutationsgefahr fiberlassen. Am wandelbaren Krankheitsbegriff k6nnen wir uns kaum ausrichten.

Arztliche Bewertung der Lage

Als Arzt bewerte ich unsere gegenwfirtige Lage, die unseres ,,Raumschiffes Erde" -- wie man gesagt hat - und ihrer Insassen ernst, denn Belastungs- und Anpassungsgrenzen werden sichtbar im S~ichlichen * Festvortrag bei der Er6ffnung der 109. Versammtung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Arzte, Stuttgart, 19. 23. September 1976

wie im Menschlichen. Kreislaufsch~iden und Vergiftungserscheinungen nehmen zu. Das aktiv wie passiv Menschenm6gliche hat Form und Inhalt ver/indert. Wir staunen fiber Extremleistungen bei Katastrophen, aber die Halbwertzeit unserer mitmenschlichen Betroffenheit ist kurz. Wir erleben Versagenszustfinde, aber der Lerneffekt ist gering. Bei grogzfigigem Sozialangebot und permissiv weitgefal3tem Krankheitsbegriffwechseln wir yon Uberlast zu Uberlust - ohne die setbstverst/indliche Kurssteuerung durch das, was die Alten die Tugenden nannten, ohne Einordnung " in einen fiberindividuellen Zusammenhang, auch ohne die Demut vor dem h6chsten Gedanken, der lebendig hoch fiber Raum und Zeit schwebt. Weite Bereiche unseres Planeten sind entwertet durch Raubbau, durch Umweltverschmutzung und Naturverstfimmelung. Um uns herum geschehen kleine und grol3e 6kologische Zusammenbrfiche. Viele Flfisse sind nur noch verschmutzte Wasserstral3en, sauberes nattirliches Wasser wird zur Seltenheit. Hinter all dem steht die Not, Nahrung und Beschfiftigung sowie ein ausreichendes Energiepotential zu sichern. Giftstoffe erreichen uns fiber Haut, Lunge, Magendarmkanal in gefahrdrohenden Konzentrationen, die bei Smogsituationen z.B. t6dlich werden k6nnen. Lfirm steigert sich zum Unertrfiglichen. Schutthalden wachsen weiter, nicht NoB durch nichtsnutzige, sondern auch durch eigentlich wieder verwendbare Abffille. Endogene und exogene Angst erffillt die Szene. Weder Fortschrittszuversicht noch Wissenschaftsidealisierung k6nnen fiber den Ernst der Gef~ihrdung menschlichen Lebens hinwegtfiuschen. Spfitestens seit der diisteren Prognose des Club of Rome wissen alle vom Ausmal3 der Bela.stungen und Bedrohungen unseres Lebensraumes. Uberdeutlich gehen sie aus dem Buch yon Zink und Graul ,,Der 29. Tag" (Medicef 1974) und aus dem Bericht yon Hans Schiller ,,Fotgen der Zivilisation" (Umschau Frankfurt 1974) hervor. Die Thematik unserer Mfinchner Tagung t972 ,,Bew/iltigung des Fortschritts" war darauf gerichtet. In Berlin wies 1974 Gibian auf die Verantwortung bin, die den Wissenschaftlern aus den M6glichkeiten

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des interspezifischen Gentransfers und des Bioengineering erwfichst, wenn ,,bisher in der Namr nie dagewesene, sich vermehrende Mischkreaturen" kfinstlich konstruiert werden kSnnen. Er ging auf die Analogie zu WShlers Harnstoffsynthese 1828 ein, die den Beginn der synthetischen organischen Chemie mit der Herstelhmg ebenfalls ,,in der Natur fiberhaupt nicht vorkommender Verbindungen" bedeutete. Doch heute ist's mehr - und sicher etwas ganz anderes als in Shakespeares Wintermfirchen. Als Perdita kfinstlich gezfichtete (nicht etwa nachgemachte) Blumen ablehnt, versucht Polyxenes zu fiberzeugen: ,,Dies ist 'ne Kunst, die die Natur verbessert, ja, ver/indert - doch diese Kunst ist selbst Natur". Gewil3 sind vom Standpunkt eines modernen Menschen auch die aus dem sch6pferischen Geist nach Analyse und Synthese der Wirkstoffe geschaffenen ,,Heilmittel der dritten Natur" - wie der HarnstoffW6hters - noch natfirlich ; bei der Gen-Manipulation aber ist eine prinzipielle Grenzfiberschreitung absehbar, die hSchster Wachsamkeit bedarf. Der Beitrag yon P.H. Hofschneider befal3t sich damit. In den USA, wo bereits Richtlinien bestehen, wird im September 1976 ein Bericht fiber die zu erwartenden Auswirkungen der Gen-Chirurgie auf die Umwelt ver6ffentlicht werden. Die pragmatischen Englfinder haben in Williams-Report ein stfindiges Beratungsgremium vorgesehen, dem alle Forschungsprojekte gemeldet werden sollen: ffir jedes Labor ist ein Sicherheitsbeauftragter verantwortlich (Nature 1963, 1 und 4 (1976)).

Erkenntnis statt Emotion

Bei der Behandlung risikoreicher Zukunftsentwicklungen ist die Gefahr emotionaler - oder auch nur nostalgischer - Aufschaukelung ohne Berficksichtigung der Gesamtsituation oder/und ohne genfigenden Sachverstand immer grog. Die Unterrichtung fiber das abschfitzbare Ausmaf3 yon Not und Abhilfe obliegt Politikern und Wissenschaftlern, auch unserer Gesellschaft deutscher Naturforscher und Arzte. Wir werden in diesen Tagen fiber Wasser, Boden, Pflanzenzfichtung sowie fiber die Wandlungen im mikrobiellen Lebensraum und natfirtich fiber Ern/ihrung sprechen. Erstmals, glaube ich, referiert in unserer Gesellschaft ein Architekt und Landschaftsplaner, Walter Rossow. Es geht um unsere allgemeinen Lebensgrundlagen. Unsere 5ffentliche Abendveranstaltung betrifft die Bedrohung und die SanierungsmSglichkeiten eines Okosystems; Hans Joachim Elster spricht fiber den Bodensee. In diesem Zusammenhang erscheint es mir nicht uninteressant, dab der um unsere Gesellschaft so verdiente Rudolf Virchow 1869 in Innsbruck bereits Gesundheitsausschfisse forderte,

H.E. Bock: Der Arzt und seine Umwelt

in denen auch der Architekt und der Chemiker neben den )~rzten und den Ingenieuren sitzen sollten. Nach der chemischen Seite wird unser Programm - traditionell - durch die Gesellschaft Deutscher Chemiker bereichert werden. Ftir Rudolf Virchow war unser Zeitalter ein sozial-medizinisches und die Medizin ,,in ihrem innersten Kern und Wesen eine soziale Wissenschaft". - Fritz Hartmann liel3 1972 auf der Mfinchener Versammlung das Thema anklingen; Hans Schaefer wird heuer darauf eingehen. Der Strom unserer Leidensffirsorge ist fiber die Ufer getreten, er bedarf der Regulierung durch die vorausschauende Abschfitzung des M6glichen, wenn nicht das ganze Sozialprodukt mit ihm zerfliegen soll.

Soziologie

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H e r a u s f o r d e r u n g der M e d i z i n

Zu Zeiten der grol3en Bakterienentdeckungen provozierte Louis Pasteur (1822- 1895) mit dem Satz: ,,Die Bakterien sind nichts, der Nfihrboden ist alles". Heute glauben viele: ,,Gesellschaft und Umwelt sind alles". Ubertreibungen steigern die Anschaulichkeit, dienen aber auch der Besinnung. Einseitigkeit verdeutlicht. Jean Bernard spricht yon ,,der soziologischen Versuchung" in unserer heutigen Medizin. Ohne zu bestreiten, dab Hfiufigkeit, Ausgestaltung und Dauer einer Krankheit auch Funktion der Milieufaktoren sind, mfiBte man m.E. mehr nach ihrem Gewicht und nach ihrer Bedeutung fragen. Nach den Arbeiten yon Ren6 KSnig, Helmuth Schelsky und Christian yon Ferber wird niemand an der Bedeutung der Soziologie, auch ffir die Medizin, zweifeln. Nur: auf die altzu bereitwillige Obernahme soziologischer Schablonen yon M~chtigen und Entrechteten, yon Rollenzwfingen und Barrieren auf das Arzt-Patienten-Verh/iltnis - und vor atlem auf die Verh/iltnisse innerhalb einer Klinik - sollte man verzichten, denn es kommen schiefe und lfickenhafte Bilder zustande, die auf keine gute Klinik zutreffen. - Die Soziologie ist eine Herausforderung ffir eine unikausal befriedigte Medizin, aber auch ffir jede plurikausal allein in cm/g/s-Mef3grSgen operierende Heilkunde. Der Mediziner braucht mehr Soziologie - u n d e r sollte wissen, dab Soziologie da, wo sie Wissenschaft ist, yon ihm gar nicht ernst genug genommen werden kann. Er sollte auch die Warnung Horst Baiers nicht iiberhSren: die in einer Abwehrhalmng gegenfiber den Sozialwissenschaften gerade bei Arzten verbreitete ,,Unempfindlichkeit gegen•ber gesamtgesellschaftlichen Entwicktungen" drohe, sie erkenntnis- und reaktionsunf~ihig zu machen. Der Entwicklungsprozel3 verlaufe von der Erwerbs- zur Leistungs- und schliel3Iich zur Zuteilungsgesellschaft; er werde einen neuen, den selbstbewul3t Gesundheit einfordernden Sozialpatienten schaffen.

Heinrich Schipperges gibt diesem modernen Patienten noch die Attribute informiert, gesundheits-

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und risikobewul3t - auch mfindig und mitbestimmend. Tatsfichlich erkennen wir diesen anspruchsvollen Typus in manchen Situationen beim Einfordern yon Rezepten, Krankmeldung oder Kur. Aber es gibt doch auch noch die grol3en vertrauensvollen Stunden zwischen Arzt und Patient, Stunden der Stitle oder der Angst, des Anfangs, des Endes oder der Genesung. Diese /irztlichen Ursituationen bleiben sich wohl ewig gleich. Um sie lohnt es sich, Allgemeinarzt, Hausarzt zu sein. Spezialisten, die ihr gehobenes Wissen NoB in Dienststunden und in der Gegenwart ihrer Apparate anbieten, versfiumen u.U. Wesentlichstes ihres Berufes, wenn sie hie in die Wohnungen und Familien ihrer Patienten Einblick nehmen. Wir Arzte mfissen uns - wenn/iberhaupt eine anthropologische Medizin sich entfalten soll - immer erneut um eine pers6nliche Beziehung zum Kranken und seiner Umwelt bemfihen. Wir mtissen die sich verbreitende Kontaktarmut und kfihle Distanz fiberwinden helfen. Da die Arztdichte gr6Ber geworden ist, mtil3te das auch m6glich sein, vorausgesetzt, dal3 wir die rechten Arzte heranbilden (wof~r Abiturnoten allein keine ausreichende Gewfihr bieten). Wir werden in diesen Verhandlungen vom Nutzen und Schaden der Arzneimittel h6ren, auch von der Unvernunft im Gebrauch yon und im Einstellungswandel unserer Zeitgenossen zum Medikament. Frfiher wurden Medikamente nur bei vertretbarer Indikation verordnet, in der Wolfgang Heubnerschen Formulierung: vom Arzte als Wirkstoff, vom Apotheker als Ware, vom Patienten als Wunder betrachtet heute ist Arznei vielfach zum leistungs- und luststeigernden ,Lebens'-mittel geworden. Aus Wohltat wurde Plage, gipfelnd im pseudosportlichen Anabolika-Doping f~r junge M/idchen und Frauen. Obwohl gegengeschlechtliche Wirkungen an Behaarungsanomalien und am Stimmbruch erkennbar werden, werden diese Mittel der Muskelmast dennoch weitergenommen, um die Kugel einen Meter weiter stogen zu k6nnen. Hier fehlt bei allen Beteiligten die Mfindigkeit -- und yon Gesnndheitsgewissen kann keine Rede mehr sein. Ein anderes Beispiel fehlender M/indigkeit: Allen Warnungen und fiberzeugenden Statistiken zum Trotz bleibt der Zigarettenund Alkoholverbrauch in migbr/iuchlicher Dimension, u n d e r w~ichst sogar noch. 1975 wurden in der Bundesrepublik Deutschland 50 Milliarden f/2r Alkohol und Tabak ausgegeben, pro K o p f 550 D M allein ffir Alkohol! Trotz aller Drogentrag6dien, trotz aller Aufklfirung fiber den verhfingnisvollen Trend zu immer h/irteren ,Stoffen' nimmt die Zahl der jugendlichen Drogenabhfingigen und Frfihrentner zu. Ein weiteres Beispiel, wie der Zweck und nicht die Informiertheit die Wahl der Mittel unkritisch bestimmt, betrifft die Antikonzeption: Da ein grot3er Teil der jungen MS~dchen anovulatorische Zyklen, d.h. solche ohne Eisprung hat, fordert der um Ovulationshemmer angegangene Arzt, erst einmal festzustellen, ob denn ovulatorische Zyklen vorl/igen, was durch Messung der Basaltemperaturen fiber die Dauer von zwei Zyklen festzustellen ist. Ein Arzt, der das fordert, erlebt, dab zwei yon drei so beratenen M/idchen nicht messen and auch nicht wiederkommen, sondern sich die Pille anders verschaffen.

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Ich will das vielschichtige Problem, das auch den Schwund firztlicher Uberzeugungskraft miteinschtiel3t, bier nicht weiter vertiefen. Man mag es einem Arzte nachsehen, dab er den engen Umkreis strenger Naturwissenschaft - weiter alsje auf unseren Tagungen - zentrifugal ftberschreitet. Die Themen Sozialverhalten, Bedrfingnis und Bewfiltigung, Kranksein im Krankenhaus lassen das schon vermuten. Arztsein geht in Denken, Fiihlen und ttandeln fiber Nur-naturwissenschaftliches hinaus. Bernhard Naunyn wird gern mit dem Ausspruch zitiert ,,Medizin wird Naturwissenschaft sein oder sie wird nicht sein". - Seine Unhaltbarkeit hat H.J. Staudinger durch den Vergleich des Arztes mit dem Ingenieur dargelegt, yon dem man auch nicht sagen k6nne: ,,Die Ingenieurkunst wird Physik sein oder sie wird nicht sein". Naturwissenschaft sei selbstverstfindlich eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung f~r die folgende Stufe des Wirkens beider. Dem angeblichen Naunyn-Satz hat Paul Sch61merich die 50 Jahre spfiter erfolgte Aul3erung Viktor yon Weizs/ickers gegenfibergestellt: ,,Die medizinische Zukunft wird eine psychosomatische sein - oder sie wird nicht sein", und - auch hier auf den ,,unverkennbar emanzipatorischen Akzent" der ffir notwendig gehaltenen Bef?eiung der Medizin - in diesem Falle aus vermeintlich rein naturwissenschafllichen Bindungen - hingewiesen. Eine Richtigstellung ist n6tig. Der tatsfichlich auf der Gedenkmfinze ftir Bernhard Naunyn stehende Ausspruch hat eine Ergfinzung. Auf unserer 72. Tagung 1900 in Aachen hat Naunyn hinzugeftigt: ,,Eine Naturwissenschaft ist sie (die Heilkunde) nicht geworden und wird sie auch schwerlich jemals werden - dazu sitzt ihr die Humanit~it zu tier im Blute".

Psychosomatik

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G e g e b e n h e i t und V e r s u c h u n g

Viktor yon Weizsfickers durchgeistigte Psychosomatik hat Frucht getragen und die Medizin sehr bereichert; sie wird es auch weiterhin tun (Jores, von UexktiI1, Freyberger, Brfiutigam, Christian u.a.). Dank der mittlerweile an mehreren Universit/iten ordentlich integrierten Psychosomatik, ich nenne Hamburg, Heidelberg, Ulm, Frankfurt sowie Hannover, ist nicht nur ,,mehr Seele in die Medizin" eingekehrt, Psychosomatik wird auch systematisch gelehrt. Paul Martini, der Begrtinder der klinischen Methodenlehre und der Arzneipriifung, dfirfte dennoch seine 1949 erhobene Forderung, nun mfisse eine statistische Sicherung der pathogenetischen Ansfitze und therapeutischen Methoden der Psychosomatik erfolgen, f/ir noch nicht erffillt halten. Aber: selbst wenn die psychosomatische Medizin nur die Vertiefung der biographischen Anamnese ftir die gesamte Medizin erreicht und die

830 Grundlagen ffir eine anthropologische Medizin im Sinne von Fritz H a r t m a n n verbreitert h/itte, w/ire sie ein Meilenstein. Die groBen therapeutischen Erfolge allerdings verdanken wir Internisten und Allgemein/irzte nicht der, Psychosomatik, nicht der sog. naturgemfil3en Phytotherapie oder der oligodynamischen HomSopathie. Sie verdanken wir dem naturwissenschaftlichen Ansatz und Vorgehen in der Medizin. Sie sind beliebig wiederholbar und erreichbar, selbst wenn dabei auf die Individualitfit und die soziale Lage keine Rticksicht genommen wfirde. Ich greife zwei Beispiele dazu heraus: Beispiel 1. Tausenden yon Menschen (40 000 in der BRD) mit wiederkehrender Herzblockierung, wir nennen das Krankheitsbild nach Adams-Stokes, ermSglicht die rein technische, also ganz unpers6nliche Schrittmacherbatterie nicht nur ein jahrelanges Uberleben ohne alle Einbul3en, sondern sie bewahrt auch viele vor dem BewuBtwerden eines Sterbevorgangs - den frfiher die Kranken u.U. mehrfach tfiglich erlebten, wenn die Blockierung erfolgte -bis nach zwei oder mehr Minuten des Herzstillstands mit dem Wiedereinsetzen der Kammerkontraktion endlich das Gehirn wieder durchblutet und belebt wurde. Hilflos stand man fr/iher dabei, bis es einmal zum letzten Anfall kam. - Was bedeutet es diesem Damoklesschwerterlebnis gegen/iber, dab auch der Sclarittmacher einmal ermfiden oder erkranken kann oder nicht gleich einheilt? Beispiel 2. Das Leid yon Hunderttausenden, als man noch an tuberkul6ser Meningitis oder galoppierender Schwindsucht meist im Jugendatter starb, ist uns )klteren noch nicht aus dem Ged~ichthis geschwunden; die Qual der - meist filteren - Kehlkopf- und Darmtuberknl6sen k6nnen nur noch die beurteilen, die sie zu pilegen hanen. Diese Krankheiten gibt es nicht mehr - oder braucht es jedenfalls nicht mehr zu geben, denn sie sind behandelbar. Der Erfolg kann in allen VSlkern, Rassen und Gesellschaftssystemen mit Tuberkulostatika erreicht werden, sogar ohne persSnliche Zuwendung. Diese Beispiele sollten nicht ats Parade stolzer Erfolge der Medizin vorgeffihrt werden, sondern als gewichtige Beispiele wissenschaftlicher Iatrogenie, d.h. des mit naturwissenschaftlichem Ansatz vom Arzt Bewirkten. Heute wird fast nur negative Iatrogenesis dargestellt, wobei dem Arzt auch das angelastet wird, was 1/ingst nicht mehr - oder noch n i e - yon ibm inauguriert wurde, also gar nicht iatrogen ist, sondern soziogen im weitesten Sinne des Wortes ist, indem es v o m gesellschaftlichen Brauch oder MiBbrauch herrtihrt. Fragte manjedesmat, welche Bedingungen, welche Mitursachen obligat und welche fakultativ sind das gilt ftir das K o m m e n wie Gehen yon Beschwerden, ffir die Pathogenese wie ftir die Heilung - , so wiirde man zu einer besseren Gewichtung k o m m e n und nicht Haupt- und Nebenursachen gewissermal3en umkehren. Das manchmal Nur-ornamentale manchen W/ihnens wtirde deutlicher werden. Ich vermisse an der psychosomatischen Medizin, dal3 sie weder eine fiberragende Spezifit~t der auslbsenden Krankheitssituation noch eine Spezifitfit der KrankenpersSnlichkeit hat herausarbeiten k6nnen. Manche Kon-

H.E. Bock: Der Arzt und seine Umwelt fliktsituationen sind so banal oder so allgemein, andere so weit hergeholt oder so geistvoll hinterfragt, dab man Jean Bernard verstehen kann, wenn er die psychosomatische Medizin als einen Fortschritt bezeichnet, aber davor warnt - geblendet v o n d e r Dialektik der Psychologen - , ,,ihrer geffihrlichen Versuchung" zu erliegen. Die moderne Strel3forschung (Selye) hat der psychosomatischen Medizin neuen Auftrieb gegeben (Levi, Hans Sch~ifer, von Eiff), allerdings im Sinne einer Zielsuche und -findung yon mSglichst viel Megund beweisbaren Werten : Somatropin, Katecholamie, freie Fettsfiuren, Glukokortikoide. Stressoren sind nie absolute GrSl3en, sondern relative, die nur in Beziehung zur Leistungsf/ihigkeit der ihnen Ausgesetzten, d.h. der Gestrel3ten, zu sehen sind. An deren Konditionierung wirken allerdings nicht nur nach Zentimeter, G r a m m , Sekunde mel3bare GrSl3en, sondern auch der Zeitgeist, die Wunsch- und Vorstellungswelt, kurz um die psychophysische Bereitschaft mit. Chance, Mode, Begehrlichkeit und Verlockung, Duldung und Widerstandswille spielen eine Rolle. Wer Krieg und Kriegsgefangenschaft, Revolution und Umbrfiche, Krankmeldetrends und Genesungstempounterschiede und vor allem ihre zweckbestimmte Wandelbarkeit in ruhigen und unruhigen Zeiten als Arzt erlebt hat, weil3, dab Gesundheitsmoral und Gemeinschaftssinn erstaunlich ( - ,,unanst~indig" - ) schnell verfinderlich sind. Hier wurzelt sowohl der psychosomatische als auch der medizinsoziologische Ansatz, der eine echte Herausforderung f/Jr eine anthropologische Medizin ist. Doch nicht nur Herausforderung, sondern auch Versuchung. Den Universalanspruch in einer Theorie der Medizin k6nnen beide nicht erheben. Die rein psychosomatische oder die allein soziogene Entstehung von Krankheit ist ein vergleichsweise seltener Sonderfall. Als auslSsende, ausgestaltende, tempogebende Mitursachen aber m/issen zukfinftig Psychound Soziogenie stfirker vom praktizierenden Arzt mitbewertet werden. Die Rolle der Selbstverschuldung bei der Krankheit, dies gilt vor allem fiir Alkoholismus, Nikotinismus, Drogismus, bedarf st/irkerer Beachtung. Hans Sch/ifer hat Selbstverschuldung bei 12% aller Krankheitsffille angenommen. Laberke findet im station/iren Bereich seines Kreiskrankenhauses bei 3 0 - 5 0 % der M/inner Organkrankheiten, die durch individuelles Fehlverhalten verursacht oder verschlimmert wurden. Mtindigkeit sollte sich in der Einstellung zu den Nutzungs- und Sch/idigungsm6glichkeiten der Umwelt zeigen. H. Strotzka meint, dal3 in jeder BevSlkerung zwischen 10 und 30% Menschen mit psychosozialen und psychosomatischen St6rungen zu finden seien. Man sch/itzt grol3ztigig, dab etwa 30, in manchen Praxen bis 50% aller Patienten keine organische Erkrankung haben, sondern dab ihr Leiden psychogen und sozio-

H.E. Bock: Der Arzt und seine Umwelt

gen verursacht - oder wenigstens mitbedingt - sei. Mir erscheinen diese Prozentsfitze zu hoch, und ich glaube, es werden sehr oft alle die Ratsuchenden mitgez/ihlt, die aus einer Sprechstunde ohne Befund herausgehen. Man kann nicht gleichzeitig den Menschen zum Vorsorgedenken ermahnen, ihn auffordern, sich grtindlich ,,checken" zu lassen, und dann die Nichtbefundtrfiger als psycho- oder soziogen Angekrfinkelte bezeichnen. Bei den meisten Ubrigen geht es oft um ganz alltfigliche und allgemein menschliche Konflikte, deren fitiopathogenetische Bedeutung in keiner Weise gesichert ist. Einer fachpsychiatrischen Behandlung bedfirfen hiervon nach meiner Schtitzung nicht mehr als 2%. - Bei solchen Vorsichtsuntersuchungen werden leider durch fJberbewertung yon Labordaten oder durch Laborfehler auch Hypochonder und Leidende erzeugt. In der Umwelt des Arztes spielen diese z.T. Primfirfingstlichen oder Sekundfirvertingstigten eine groBe Rotle, weil sie nicht nut in den Wartezimmern, sondern auch an ihren Arbeitsplitzen eine beachtliche ,,Infektiositfit" entwickeln. Die Vielfalt angebotener und ausgefiihrter psychotherapeutischer, verhaltenstherapeutischer Fremd- und Selbstbehandlungsmethoden, einzeln, im Dual oder in der Gruppe, ist grot3. Sie zeugt yon einer weitherzigen und nicht immer kritischen, individual- wie sozialmedizinischen Indikationsstellung. Das autogene Training hat den besonderen Vorteil, manchem Menschen erstmals einen Eindruck vom eigenen Leib und seiner psychosomatischen Beeinflul3barkeit zu geben. - Es kommt dem Ziel jeder guten irztlichen Behandlung entgegen, den Patienten sobald wie m6glich in seinen eigenen Freiheits- und Bestimmungsraum zu entlassen, damit er sich selbst entfalte und selbst verwirkliche. Jedoch sollten die M6glichkeiten einer nachgehenden Ftirsorge und Gesundheitserziehung besser genutzt werden.

Medikamenttise und technische Verfdhrung Die Alternative zu den verbalen und tibenden Verfahren ist - Gtiick und Ungltick zugleich! - das Medikament. Die meisten Patienten und )~rzte ziehen es vor, weil es einfacher, handlicher, meist billiger und schneller anwendbar ist, oft auch (z.B. in der Behandlung des menschlichen Hochdrucks) effektiver. Die Gefahr, dab ein Medikament nur zudeckt, ohne die ~itiologische Tiefe und damit vielteicht eine Besserungsm6glichkeit yon Dauer freigelegt zu haben, lauert stets. Moderne Medizin kennt und verlangt eine sehr differenzierte Indikationsstellung. Paradoxerweise verftihrt aber das groBe Arzneiangebot oft zu Oberflfichlichkeit. Auf Intensivstationen, die etwa 5% der Betten einer Medizinischen Klinik umfassen, wird das besonders deutlich.

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Zwei Vorwfirfe werden oft gegen die Schulmedizin erhoben: 1. es wfirden zu viele Medikamente verordnet; 2. die Technik spiele eine zu grof3e Rotle. In der Tat lassen die )Qzte unserer Zeit sich nicht nur vom Technischen faszinieren, sie mfissen es. Um sich Technik dienstbar zu machen, mug man sie beherrschen. Leicht kommt die Meinung auf, die Medizin fiberschfitze die Technik, sie verwende ja so viel Zeit darauf. Leider miissen eben viete Methoden diagnostischer und therapeutischer Art sehr zeit- und personalaufwendig in Kliniken erlernt und immer wieder geiibt werden, bis sie kunstfertig klappen: man denke an Gastroenteroskopie, Bronchoskopie, Angiographie. Man kann am Beispiel der Koronarangiographie, bei der es um die Diagnostik des Herzkranzgeffi.13-Systems mittels R6ntgenkontrastmitteldarstellung geht, Aufwand und Anspruch gut begriinden. Nur wo 500 Gef~il3sondierungen pro Jahr anfallen, also pro Arbeitstag etwa 2, kann man die Komplikationen auf ein verantwortbares Mar3 herunterdrticken, Die Virtuosit~it des Einzethen, dernur gelegentlich einmal sondiert, reicht nicht aus, da eine komplizierte harmonische Teamarbeit n6tig ist, bei der alle aufeinander eingestellt sein miissen.

Auf Intensivstationen ist die f3berwachung der Gerfite und ihrer Signale, man mag das bedauern - in der Tat fiir Leben und Sterben zu gewissen Zeiten sehr viel entscheidender als das Gespr/ich mit dem Kranken. Das Leiden scheint hier - um mit Fritz Hartmann zu reden - ,,versachlicht". So machen Inter~sivstationen nur zu leicht nach aul3en hin einen unpers6nlichen, vielleicht einen unmenschlichen Eindruck. Bei h6chster Dringlichkeitsstufe hat die technische Geborgenheit Vorhand vor individueller Behaglichkeit. Man darf darin keine Herabwtirdigung des Menschen zum bloBen Behandlungsobjekt sehen. Freilich wird manchmal vergessen, dab das menschliche Bediirfnis des Kranken und seiner Angeh6rigen gerade in solchen Situationen besonders grol3 ist, und daI3 die Pr~igekraft des ersten Augenblicks der Aufnahme lange nachwirkt. Vertrauensvolle Zusammenarbeit ist gerade auf Intensivstationen n6tig. - Das Team der Hilfeleistenden wird yon Jahr zu Jahr gr613er, eine Gefahr nicht nur ffir die anamnestische Gesprfichsbereitschaft des Kranken, sondern auch ffir die Eingrenzung und Bewahrung der firztlichen Schweigepflicht. Die prim~ire Vielzahl yon Funktionstrfigern und die Tatsache des dreifachen Schichtwechsets sind gravierend f i r ~dele Patienten, die keine Bezugsperson finden und sich wegen ihrer apparativen Versorgung oft gar nicht einmal verst~indlich machen k6nnen. Einer verdienstvollen Analyse von Heinrich Schipperges mul3 man entnehmen, dab es im Jahre 2000 mehr als 350 Berufe im Gesundheitswesen geben k6nnte. Diese Kette ist viel zu lang und zu verzweigt, um ein echtes Vertrauensverhfiltnis zwischen dem Kranken und seinem Arzt zustandekommen zu las-

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sen. Man mug bemfiht sein, diese Zahl herabzusetzen. Auf allen therapeutischen und pflegerischen Ebenen mul3 personale Medizin kultiviert werden. - Auf dem firztlichen Sektor bedauert man das Uberhandnehmen der an sich unbestreitbar notwendigen Spezialisierung, die zu dem nicht gliicklichen 1 : l-Verhfiltnis von Krankenhausfirzten zu niedergelassenen Arzten get'tihrt hat. Am meisten bedaure ich, dal3 'sich das Interesse an der Allgemeinmedizin nur sehr langsam steigert, da ich den Lebensraum und die Aufgabe eines Allgemeinarztes zwar ftir h6chst anstrengend, beruflich und gesamtmenschlich aber auch ffir h6chst befriedigend halte. Hier kann noch personale, den ganzen Menschen und seinen gesamten Lebensbereich berficksichtigende, d.h. wahre anthropologische Medizin betrieben werden. Diese Aufgaben sind selbst auf dem Lande gut 16sbar, wenn eine Form der Gruppenpraxis mit einigen Interessenschwerpunkten in benachbarten Orten realisiert wird, so dab etwas mehr Freiheit in der Nacht- und Feiertagsdienstptanung und auch ffir Fortbildung und ftir Ferien bleibt. Der Allgemeinarzt kann noch mehrere Generationen in einer Familie iibersehen und die grogen Lebensereignisse freudiger wie ernster Art miterleben.

Erg~inzungsbediirftige Gebiete ~irztlieher Ausbildung Leider ist die derzeitige Vorbereitung auf den Beruf des Allgemeinarztes an unseren Universit~iten nicht optimal. Ich warne besonders vor jeglicher Reduzierung unserer medizinischen Universitdts-Polikliniken. Poliklinik ist ein Lehrfach besonderer Art, in meiner Sicht heute das wichtigste ffir den Brfickenschlag yon der wissenschafttichen Medizin zur Praxis. Der Lehrstuhl ffir Allgemeinmedizin, den ich sehr beftirworte, kann Bestandteil einer Medizinischen UniversitMsPoliklinik sein ; identisch mit dem Polikliniker ist sein Inhaber nicht. Auch in der Poliklinik muf3 wissenschaftliche Forschung betrieben werden, vor allem epidemiologische (z.B. Gastarbeiter-, Touristikmedizin) und viel praktisch-therapeutische. Anhand yon Arzneiprfifungen und Therapievergleichen soll der werdende Arzt zu kritischer rationaler Arzneianwendung erzogen werden. In der Poliklinik kann er Studien zur Sozio- und zur Psychogenese unter Anleitung Fachkundiger betreiben, ohne den festen Boden medizinischer und psychiatrischer Fakten zu verlieren. Medizinisch vorgebildete, vom Arzttum durchdrungene Psychologen k6nnen in Poliklinik wie Klinik ffir Patienten, Arzte und Pflegepersonal richtungweisende Erkenntnisse gewinnen. Vorurteilslose und urteilsftihige Mitarbeiter aus sozialmedizinischen und raedizinsoziologischen Arbeitskreisen werden jedem Klinikchef witlkommen sein. Bisher haben Ffirsorgerinnen, Sozialpfleger und vor allem Klinikseelsorger im Stillen eine der Offentlichkeit weniger dramatisch demonstrierte mitmenschliche, heilkrfiftige und rehabilitationsf6rdernde Wirkung entfaltet.

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Die klinische Fol~chung kann nicht immer von grol3en Konzepten ausgehen; sie ist an die Gelegenheit gebunden, Experimente der Natur so auszuwerten, wie sie als Krankheiten angeboten werden. Dennoch ist eine langfristige grundlagennahe Forschung auch -- und vielleicht nur - in der Klinik m6glich und auf den Gebieten Immunologie und klinische PharmakoIogie nach meiner Meinung vordringlich. Es fehlt in Deutschland am Entfaltungsraum ffir eine groge Zahl gut vorgebildeter klinischer Pharmakologen. Abteilungen sollten in den Kliniken und Grol3krankenh/iusern eingerichtet werden. In keiner anderen Periode der Therapie, sagt Rahn, sind so viele pr~izise Daten fiber Art und Hfiufigkeit von Nebenwirkungen ermittelt worden wie in den letzten 5 Jahren. Die Urnwelt des Arztes sollte einsichtig werden, daI3jede Therapie eine Abwfigung von Risiken erfordert und beinhaltet, und dab jedes wirklich wirksame Medikament neben den erwfinschten und erstrebten, auch potentiell unerwfinschte Begleit- oder Nebenwirkungen haben kann. Sie h~ingen manchmal viel mehr v o n d e r individuellen Konstellation v o n d e r Stoffmenge ab. Jede unerwartete Wirkung sollte eine klinisch-pharmakologische Seminaraufgabe sein, den Geschehensablauf und seine Komponenten zu analysieren. Karl Matthes, der noch als Klinikchef eine bewunderswerte Forschungst~itigkeit auf dem Kreislaufsektor entfaltete, hat in seiner Mfinchner Pr~isidentenrede 1962 ffir die klinische Forschung, die heute leider wieder unterbewertet wird, eine Lanze gebrochen. Mitarbeiter, die in grundlagenwissenschaftlichen Instituten gut vorbereitet sind, k6nnen auch als Kliniker auf einem schmalen Sektor wichtige klinische Forschung betreiben. Eine Scheidung von Klinik~irzten ffir die Forschung und solchen ffir die Krankenversorgung lehne ich ab. Es wfire aber sehr wfinschenwert, dab mehr Theoretiker aus Physiologie, Pharmakologie, Biochemie, Mikrobiologie und Immunitfitslehre in grol3en Kliniken integriert w(irden. Die medizinische Biotechnik und die Strahlenheilkunde ben6tigen sogar Physiker in der Klinik. Zwei Gebiete der Medizin, die Pddiatrie und die Geriatrie bed/irfen der besonderen klinischen Verbundforschung von Nrzten, Psychologen und PS.dagogen. Vor/der Perinatalperiode her sind unsere Kinder aufrnerksam beobachtet, sp/iter durch Impfprogramme leiblich wohl gerfistet und durch besseres psychologisches Verst~indnis in Zukunft wohl auch sinnvoller behiltet. Die Jugendpsychologie und die Verhaltensforschung geben auch dem Arzt Ziel und Weg in seiner Umwelt an. Die Prfigekraft der ersten Kinderjahre ist anerkannt, die der Schulzeit wird unterschfi.tzt. Bliebe zu hoffen, dab auch die schulische Entwicklnng in ruhigen, klaren Bahnen verlaufe, und dab - 5.hnlich wie bei den Medikamenten - auf ,,Wirksamkeit und Unbedenklichkeit" geachtet werde. - Vor altem scheint mir ein fiber die gesamte Schulzeit garantiertes Programm der Leibeserziehung n6tig, das deren humane Aufgaben und Grenzen besser beachtet als bisher. Es darf keinesfalls in der entscheidenden Phase der Berufsschulausbildung wegfallen. Auswiichse des Sportes milssen bekfimpft werden. Die Greisenperiode ist demgegenilber sehr viel schlechter untersucht, betreut und versorgt. Hier b6te sich ein reiches Forschungs- und Bet~itigungsfeld ffir alle Humanwissenschaften und fiir alte Sozialberufe an. Es daft nicht einsam werden um unsere Alten und erst recht n i c h t u m ihre Sterbebetten. - Alternsforschung auf molekularer und zellulg.rer wie auf immunologischer Ebene (Burnet) wird weiter intensiviert werden mfissen.

H.E. Bock: Der Arzt und seine Umwelt

Der Arzt in der Entscheidung Die Einstellung zum Tode und zu seiner Annahme wandelt sich zum Rationalen. Der Arzt steht auf der Seite des Lebens, seine Aufgabe ist es, menschliches Leben zu erhalten, aber auch unmenschliches Leiden zu verhindern. Nicht einmal im engen Gesichtsfeld eines die Einzelheiten vergragernden Zielfernrohrs erscheint quantitatives Alterwerden an sich als Fortschritt. Im Weitwinkelobjektiv, d.h. bei einer Gesamtbewertung vor einem gral3eren Horizont - und auch in der eigenen Erfahrung - , sieht sich manches anders an. Lfingst ist die Medizin der Oberzeugung, dab der Arzt nicht alles tun darf, was er oder was man kann. Er mug Entscheidungen treffen und darf sich nicht einem technokratischen Zugzwang ausliefern. Witlenserklfirungen der Patienten sind sehr erwtinscht, aber sie geben keinen Marschbefehl ftir das/irztliche Handeln oder Nichthandeln. Die tetzte Entscheidung ffillt im Gewissen, im Wissen und in der Erfahrung des Arztes (W. Wachsmuth). Auch der Leib des Kranken nimmt teil an der Wtirde, Besonderheit und Einmaligkeit der Person (Karl Matthes, 1962). Die Sorgfalt um den Kranken darf bis zur letzten Stunde nicht nachlassen'- auch berticksichtige man stets, dab er noch viel mehr aus Gespr/ichen und Handlungen seiner Umgebung aufnimmt, als manche denken. Die Umwelt des Arztes zeigt einen dichter besiedelten Lebensraum mit gesteigertem toxischen und mit verwandeltem infekti6sen Potential. Neben einem vergr6Berten Arsenal naturwissenschaftlich begrtindeter Hilfsm6glichkeiten gibt es ein expandierendes Angebot an sozialmedizinischen und sozialen Hilfen. Nur Gesundheitspolitik auf lange Sicht auf der Basis der Vernunft und Gerechtigkeit kann den Ausgleich zwischen Begehrlichkeit und Gew/ihrung, zwischen Nachfrage und Angebot, zwischen Zuviel und Zuwenig, zwischen Luxuriosum und Optimum herstellen. Unsere Magst/ibe bedtirfen dringend der Justierung. Eine naturwissenschaftlich fundierte Medizin hat therapeutische und pr/iventive Erfolge grogen Ausmal3es - sogar bei unpersanlicher und schematischer Anwendung - aufzuweisen. Das Zweischneidige artefizieller Eingriffe in 6konomische Gleichgewichte, insbesondere in das Tempo von Evolution und Adaptation und das Doppelgesicht des Fortschritts darf nicht tibersehen werden. Nur eine vernunftgem/iBe Einstellung auf seiten der Arzte wie auf seiten der Patienten und Gesunden kann weiteren echten Fortschritt bringen. Der Arzt bedarf gr613erer Entschiedenheit und Entscheidungsfreude bei der Bemessung yon Krankheit und Gesundheit. Er darf der anspruchsvolten Behauptung so wenig wie der permissiven Ausdeutung und letztlich unsozialen Ausnutzung des Krankheitsbegriffes nachgeben. Die Fassung meines Themas

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,,Der Arzt und seine Umwelt" sollte erkennen lassen, dal3 nicht das Captative, das den Lebensraum egoistisch Aussch6pPoare, sondern dab das Obligatorische, das der Umwelt fachkundig und mitmenschlich zu Gebende, das der Gesundheitsvorsorge und Lebensbewahrung Dienende, mein Anliegen war. Deshalb mul3 ich mich auch fragen, wie einer tiberffillten und geffihrdeten, in vieler Beziehung ihr menschliches Mal3 iiberschreitenden Welt zu helfen w/ire, wenn sie trotz Erkenntnis ihrer Grenzen immer weiter einem quantitativen Wachstum des Verbrauchs huldigt. Die verntinftige Befolgung der Cramer-Formel ,,Fortschritt durch Verzicht" k6nnte Umwelt und Inwelt der Menschen zukunftssicherer gestalten. Da der Erziehung bester Teil Vorbild ist, m/il3te man vom Arzt, der Erzieher zu gesunder Lebensfiihrung und Lebenshaltung sein soll, noch ein bil?chen mehr verlangen als yon den anderen - ganz im Sinne Willi Hellpachs, der nicht nur badischer Professor der Psychologie in Heidelberg und Politiker, sondern auch einmal praktizierender Nervenarzt war und schrieb: ,,Arztsein fordert den ganzen Lebensinhalt'° - und ein andermal: ,,Das einzigartige Mal3 an Wirklichkeitsgewissen, das die Heilkunde und Heilkunst ihren Jtingern verleiht, rechne ich zu dem kostbarsten Besitz". - Stuttgart erfordert und erlaubt - auch 1976 noch - ein hoffnungsverheil3endes Schillerzitat, das ich den traurigen Aspekten vom Anfang meiner Rede gegenfiberstellen m6chte: ,,Ein gewaltig Lebendiges ist die Natur ... Und alles ist Frucht Und alles ist Samen" (Braut yon Messina) M6chte das so bleiben! Literatur Alexander, F.: Psychosomatische Medizin. Berlin: De Gruyter 195t Baier, H.: Die Medizin: eine Natur- oder Sozialwissenschaft? Vhdlg. Dtsch. Ges. Inn. Med., 79. Kongr., Wiesbaden I973. Mtinchen: J.F. Bergmann 1973 Bernard, J. : Gr613e und Versuchung der Medizi,n. Wien-MtinchenZtirich: Molden-Verlag 1974 Bock, H.E.: Gesundheit und Krankheit. Int. J. prophylakt. Med. u. Sozialhyg. 2, H. 4, 117-123 (1958) Bock, H.E. : Der Arzt und die Zeit. Therapiewoche 1969 Br/iutigam, W., Christian, P. : Psychosomatische Medizin. Stuttgart: G. Thieme 1975 Burnet, Mcfarlane: Naturw. Rundschau 29, 305-311 (1976) Butenandt, A.: Verhdlg. Ges. Dtsch. Naturforscher u. ,~.rzte. 97. Versammlung (Essen 1952). Berlin-G6ttingen-Heidelberg: Springer Christian, P. : Das Personverst~indnis im modernen medizinischen Denken. Schriften der Studiengem. d. Ev. Akademie Nr. 1. Tiibingen: Mohr 1952 Cramer, F.: Fortschritt dutch Verzicht. Mtinchen: Nymphenburger Verlagsbuchhdlg. 1975 Eiff, A.W.v.: Seelische und k6rperliche St6rungen durch Stress. Stuttgart: G. Fischer 1976

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Professor Dr. Dr. h.c.H.E. Bock Medizinische Universitfits-Klinik D-7400 Tfibingen Bundesrepublik Deutschland

[The physician and his environment (author's transl)].

Klin. Wschr. 55, 827-834 0977) Klinische Wochenschrift © by Springer-Verlag 1977 Der Arzt und seine Umweit* tt.E. Bock Medizinische Universit~its-Kl...
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