7

S206 Referat

Traumatologie des Mittelgesichts Trauma of the Midface

Autoren

T. S. Kühnel1, T. E. Reichert2

Institute

1

Schlüsselwörter ▶ Rhinologie ● ▶ Traumatologie ● ▶ Mittelgesicht ● ▶ Orbita ● ▶ endoskopische Nasenneben● höhlenchirurgie

Inhaltsverzeichnis

 HNO-Universitätsklinik und Poliklinik Regensburg  Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer-und Gesichtschirurgie Universitätsklinik Regensburg

1. Einleitung 2.

207

Grundlagen der Traumatologie des Mittelgesichts 207

Torsten E. Reichert Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer-und Gesichtschirurgie Universitätsklinik Regensburg Franz-Josef-Strauß-Allee 11 93053 Regensburg Tel.:  + 49 (0)941 944 6301 Fax:  + 49 (0)941 944 6302 [email protected]

226

Radiologische Diagnostik

226

4.4 Operationsindikation

226

4.5 Therapie

226

4.6

Traumatische Neuropathie der Hirnnerven

227

208

4.6.1

Anatomische Besonderheiten des Sehnerven

228

2.2 Einteilung

208

4.6.2

Epidemiologie und Ätiologie

228

2.2.1

Le Fort-I-Fraktur

208

4.6.3 Diagnose

229

2.2.2

Le Fort-II-Fraktur

208

4.6.4

Indikation, Zeitpunkt der Intervention

230

2.2.3

Le Fort-III-Fraktur

208

4.6.5

Konservative Therapie

230

2.3 Zugangswege

209

4.6.6

Dekompression endonasal, transorbital oder

2.4 Symptome

209

2.5

Radiologische Diagnostik

211

4.6.7

2.6

Prinzip der operativen Versorgung

211

4.6.8 Resümee

232

2.7

Antibiotikaprophylaxe bei Mittelgesichts­

5.

­neurochirurgisch pteryonal

231

Ergebnisse, Kasuistiken

232

Laterales Mittelgesicht

233

5.1 Jochbeinfrakturen

233

5.1.1

Epidemiologie, Pathogenese, Einteilung

233

5.1.2

Klinische Symptome

233

Radiologische Diagnostik

233

2.8

Interdisziplinäre Kooperation

212

3.

Zentrales Mittelgesicht

212

3.1

Frakturen der Nasenbeine, des Nasenseptums und

5.1.3

des nasoethmoidalen Komplexes

212

5.1.4 Operationsindikation

234

212

5.1.5 Therapie

234

5.2

Isolierte Jochbogenfraktur

238

6.

Panfaziale Frakturen

238

3.1.1 Nasenbeinfrakturen 3.1.2

Nasoethmoidale und nasoorbitoethmoidale ­Frakturen

213

3.2 Stirnhöhlenverletzungen

215

3.2.1

215

Epidemiologie, Pathogenese, Einteilung

3.2.2 Diagnostik

Korrespondenzadresse Thomas S. Kühnel HNO-Universitätsklinik und Poliklinik Regensburg Franz-Josef-Strauß-Allee 11 93053 Regensburg Tel.:  + 49/941/944 9440 Fax:  + 49/941/944 9441 [email protected]

Klinische Symptome

4.3

2.1 Anatomie

verletzungen212

Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1396873 Laryngo-Rhino-Otol 2015; 94: S206–S247 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 0935-8943

4.2

3.2.3

Operationsindikationen Und Kontraindikationen 215

3.2.4 Resümee 3.3

215 218

Siebbein- und keilbeinhöhlenfrakturen, frontobasale Verletzungen

218

3.3.1

Epidemiologie, Pathogenese, Einteilung

218

3.3.2

Diagnostik und Operationsindikation

219

3.3.3 Therapie

221

3.3.4 Resümee

224

3.4 Orbitafrakturen

224

3.4.1

Epidemiologie, Pathogenese, Einteilung

224

3.4.2

Klinische Symptome

224

3.4.3

Radiologische Diagnostik

224

3.4.4

Indikation, Therapie

224

4.

Le Fort-Frakturen

225

4.2

Epidemiologie und Pathogenese

225

Kühnel TS, Reichert TE. Traumatologie des Mittelgesichtes.  Laryngo-Rhino-Otol 2015; 94: S206–S247

Abstract

239

Literatur

239

Heruntergeladen von: University of British Columbia. Urheberrechtlich geschützt.

Key words ▶ rhinology ● ▶ trauma ● ▶ midface fractures ● ▶ orbit ● ▶ ESS ●

2

7

Referat S207



Mittelgesichtsfrakturen sind in den Industrieländern wegen ihrer Häufigkeit, Komplexität und sozioökonomischen Bedeutung ein ernst zu nehmendes medizinisches Problem. Die interdisziplinäre Zuwendung der verschiedenen Fachdisziplinen ermöglicht dank moderner Schnittbilddiagnostik und filigraner Osteosyntheseverfahren eine Versorgung mit funktionell und ästhetisch günstigen Ergebnissen. Verkehrsunfälle führen die Liste der Ursachen an, wobei zahlenmäßig Männer in der dritten Lebensdekade am stärksten betroffen sind. Neben Verletzungen der Nasenbeine, des Oberkiefers und der Jochbeine, für die sich Versorgungsalgorithmen mit breitem Konsens durchgesetzt haben, sind die Verletzungen der Stirnhöhle und der Orbitaspitze, insbesondere des N. opticus Gegenstand einer andauernden Kontroverse um die beste Therapieform. Die Fortschritte der endoskopischen Chirurgie und die Grenzen des evidenzbasierten Erkenntnisgewinns spielen in dieser Diskussion eine besondere Rolle und werden in den entsprechenden Abschnitten beleuchtet. Für die Stirnhöhlenfrakturen zeichnet sich ein Wandel von großen Zugängen zu gering invasiven Techniken ab. In der Therapie der traumatischen Optikusneuropathie sind kritische Anmerkungen zur hoch dosierten Kortisongabe angebracht. Neue Materialien wie präformierte Titangitter und die intraoperative Bildgebung sind wesentliche Aspekte in der aktuellen Traumatologie der Orbita. Für die Versorgung fronto­ basaler Frakturen mit Liquorrhoe haben sich die endoskopischen Verschlusstechniken ihrer geringen Morbidität und großen Sicherheit wegen durchgesetzt und haben neben den neurochirurgischen Verfahren einen bedeutenden Stellenwert erlangt.

1. Einleitung



Die vorliegende Übersicht der Mittelgesichtsverletzungen weist an einigen Stellen Schwerpunkte auf, an anderer Stelle bleibt die Darstellung eher knapp. Wir haben versucht, aus der Häufigkeit wissenschaftlicher Bearbeitungen und der z. T. kontroversen Diskussionen in der Literatur das momentane Interesse der Fachgemeinschaft an einzelnen Themen abzulesen und wollen diesem Rechnung tragen. Der Schwerpunkt liegt auf den knöchernen Verletzungen. Weichgewebeverletzungen werden nur angesprochen, soweit sie für das jeweilige Verletzungsmuster von Bedeutung sind. Dabei ist es von unstrittiger Bedeutung, sie primär exakt zu versorgen, da selbst bei perfekt rekonstruiertem knöchernen Gerüst Narben zu Entstellungen und Funktionseinbußen führen können, die sekundär nur sehr schwer zu korrigieren sind [1, 2]. Traumata im Bereich des Mittelgesichts führen regelmäßig zu Verletzungen von Weichgewebe, Zähnen und knöchernen Strukturen des Schädels einschließlich des Oberkiefers, des Jochbeins, des nasoorbitalen und nasoethmoidalen (NOE) Komplexes sowie supraorbitaler Strukturen. Nicht selten sind diese Mittelgesichtsverletzungen mit Verletzungen in anderen Bereichen des Körpers kombiniert [3]. Patienten mit Mittelgesichtsfrakturen können bei nicht erfolgreicher oder nicht sachgerechter Behandlung erhebliche Langzeitfolgen in Form von entstellenden ­Narben, knöchernen Deformitäten oder sogar den Verlust des Augenlichts erleiden [4]. Erhebliche emotionale und psychologische Problemen können Folge für den traumatisierten Patienten sein [5, 6]. Die erfolgreiche Behandlung und Rehabilitation von Patienten mit Mittelgesichtsverletzungen verlangt eine profun-

de Kenntnis der Anatomie, der Frakturenlehre und der Osteosynthesetechniken. Hinzu kommen spezielle Kenntnisse auf den Gebieten der Okklusion, der Augenphysiologie und der Schädelbasischirurgie.

2. Grundlagen der Traumatologie des Mittelgesichts



Die Ätiologie der Mittelgesichtsverletzungen unterliegt im Verlauf der vergangenen 3 Jahrzehnte einem Wandel, der noch immer anhält. Dieser erklärt sich durch verbesserte Sicherheitsvorkehrungen in den Kraftfahrzeugen, durch eine Veränderung im Freizeitverhalten und durch die unterschiedlichen Regionen, in denen die Erhebungen durchgeführt wurden [7, 8]. Rohheitsdelikte als Ursache einer Mittelgesichtsverletzung zeigen v.  a. ­deutliche regionale Unterschiede. In den vergangenen 10 Jahren wurde auf der einen Seite die Zunahme von Mittelgesichtsverletzungen durch häuslichen Sturz als Folge der älter werdenden Gesellschaft in den westlichen Industrieländern registriert, auf der anderen Seite haben die Sportunfälle jüngerer Menschen zugenommen [9, 10]. Laterale Mittelgesichtsverletzungen (63 %) sind häufiger als zent­rale, Männer sind deutlich öfter betroffen als Frauen. Es ­besteht ein Altersgipfel in der 2. und 3. Dekade. Verkehrsunfälle dominieren vor Sportverletzungen [8]. Bei 43 % der Patienten lassen sich Hirnnervenausfälle nachweisen. Störungen der Sensibilität des N. infraorbitalis sind zahlenmäßig führend, gefolgt von L­ äsionen des N. facialis [11]. Für Mittelgesichtsfrakturen gilt das Prinzip der primären Frakturversorgung innerhalb eines Zeitraums von maximal 2 Wochen. Anschließend kommt es durch die einsetzende Knochenresorption an den Fragmentflächen und die beginnende Kallusbildung zu einer deutlich schwierigeren Ausgangslage für eine Reposition in anatomisch korrekter Position. Nach der Zeit von 2 Wochen gilt daher die Behandlung als verzögert und folgt den Prinzipien der sekundären posttraumatischen Versorgung. Die primäre Frakturversorgung sollte erfolgen, sobald es der allgemeine Zustand des Patienten zulässt. Limitierend für eine sofortige Frakturversorgung ist in den seltensten Fällen die Fraktur selbst, sondern der Allgemeinzustand des Patienten. Unabhängig von Schweregrad und Typ der Fraktur ist das Prinzip für eine erfolgreiche Therapie der Mittelgesichtsfraktur die Wiederherstellung der Stützpfeiler des Mittelgesichtes, der knöchernen Prominenzen, der knöchernen Höhlen (z. B. Orbita) und der korrekten Okklusion [12–14]. Bei der definitiven chirurgischen Therapie wird eine exakte drei-dimensionale Rekonstruktion der skelettalen Strukturen angestrebt, um das Gesicht in originaler Breite, Höhe und Sagittalprojektion wiederherzustellen [13]. Seit Einführung der Plattenosteosynthese über Zugänge mit optimaler Übersicht wurden die Ergebnisse in der Versorgung von kraniofazialen Frakturen erheblich verbessert. Für die Therapie kindlicher Verletzungen müssen angepasste Verfahren angewandt werden. Dies bedeutet v. a., dass das umfängliche Ablösen des Periostes vom Knochen so weit als möglich vermieden werden soll, da sonst Wachstumsstörungen drohen. Andererseits gilt bei Kindern ebenso wie bei erwachsenen Patienten, dass die Reposition bei relevant dislozierten Frakturen Vorrang hat. Grünholzfrakturen erfordern nach Reposition nicht notwendigerweise eine osteosynthetische Stabilisierung. Resorbierbare Osteosynthesematerialien stellen eine Alternative zu Titan dar [17].

Kühnel TS, Reichert TE. Traumatologie des Mittelgesichtes.  Laryngo-Rhino-Otol 2015; 94: S206–S247

Heruntergeladen von: University of British Columbia. Urheberrechtlich geschützt.

Zusammenfassung

7

S208 Referat

Das Mittelgesicht besteht aus folgenden knöchernen Strukturen: Os nasale, Os lacrimale, Os ethmoidale, Os sphenoidale, Maxilla, Os zygomaticum und Os palatinum [18]. Die genannten Knochen vereinigen sich zum Gesichtsschädel in einer besonderen Leichtbauweise mit typischer Rahmenkonstruktion und ver▶  Abb. 1). Die vertikalen Trajektorien oder stärkten Trajektorien ( ● auch Stützpfeiler des Mittelgesichts genannt, dienen dazu, die Kaukräfte auf die Schädelbasis und die knöchernen Strukturen des Neurokraniums weiter zu leiten [19]. Die erste Hauptkraftlinie zieht von den Alveolen der Frontzähne und Eckzähne über die Begrenzung der Apertura piriformis zum Processus frontalis der Maxilla und zum Os frontale. Die zweite Hauptkraftlinie zieht vom Bereich der Prämolaren und ersten Molaren über die Crista zygomaticoalveolaris zum Jochbein und von dort über den lateralen Orbitarand zum Stirnbein. Die dritte Hauptkraftlinie zieht von den distalen Oberkiefermolaren über das Tuber maxillae und das Pterygoidmassiv zur Schädelbasis [18, 19]. Die transversalen Trajektorien des Mittelgesichts werden von den supraorbitalen und infraorbitalen Knochenrändern und dem Alveolarfortsatz des Oberkiefers gebildet [16]. In der Traumatologie sind die Durchtrittstellen der Gefäße und Nerven von besonderer Bedeutung, da hier strukturelle Schwachstellen den Verlauf der Bruchlinien beeinflussen. Im Bereich der Frontobasis sind das folgende Foramina: ▶ Die Foramina in der Lamina cribrosa, durch die die Fila olfactoria ziehen. ▶ Die Durchtrittsstellen der Aa. ethmoidales anterior und posterior. ▶ Der Canalis opticus, der bei der Pathogenese der traumatischen Neuropathie des N. opticus eine Rolle spielt. ▶ Die Fissura orbitalis superior mit den Nerven für die Okulomotorik, die jedoch nur bei extremen Verletzungsformen eine direkte Bedeutung hat. ▶ Das Foramen infra- und supraorbitale mit den jeweiligen Portionen des N. trigeminus. Frakturen, die durch diese Foramina führen, weisen durch klinisch auffallende Hyp- oder Anästhesie auf eine Operationsindikation.

2.2 Einteilung

Heute werden die Frakturen vorwiegend durch ihre radiologische Beschreibung klassifiziert. Wegen der unmittelbar funktionellen klinischen Bedeutung wird die Einteilung der Mittelgesichtsfrakturen nach Le Fort weiterhin verwendet und hier dargestellt. Die Einteilungen nach Escher, Wassmund, Gonty [20] und Ernst berücksichtigen Prädilektionsstellen wie die Lamina cribrosa, die Keilbeinhöhle, die Stirnhöhlenvorder- und Hinterwand und das Siebbeindach [21]; sie verlieren jedoch zunehmend an Bedeutung. Im weiteren Sinne sollen hier auch die Frakturen der Nachbarregionen mit abgehandelt werden. Dieses sind frontobasale Frakturen, Frakturen der Nase und des nasoethmoidalen Komplexes, Frakturen der Orbita und des Jochbeins und Jochbogens und die Mittelgesichtsfrakturen im engeren Sinne wie die verschiedenen Le Fort-Frakturen. Bei der Gewalteinwirkung auf das Mittelgesicht resultiert aufgrund der besonderen anatomischen Struktur und Bauweise des Gesichtsschädels eine Häufung bestimmter Frakturtypen [19]. Die daraus resultierenden Klassifikationen lassen wissenschaftliche Untersuchungen sowie statistische Auswertungen und Vergleiche von Kollektiven erst zu. Die am weitesten verbreitete Klassifikation der Mittelgesichts▶  Abb. 2). Bei seifrakturen ist die Einteilung nach Le Fort [22] ( ● nen Studien an Leichenschädeln hat René Le Fort (französischer Chirurg, 1869–1951) typische Bruchlinien im Bereich des Mittelgesichts und Oberkiefers festgestellt (Le Fort, 1901). Daraus hat sich die am meisten verbreitete Klassifikation der Mittelgesichtsfrakturen entwickelt. Diese Frakturen können ein- oder auch beidseitig bzw. in unterschiedlicher Kombination auftreten.

2.2.1 Le Fort-I-Fraktur

Bei dieser Fraktur wird der Oberkiefer in einer horizontalen Ebene oberhalb der Zahnwurzeln und des harten Gaumens vom Gesichtsschädel getrennt. Die Frakturlinie verläuft von der ­ Apertura piriformis durch die Crista zygomaticoalveolaris zum Tuber maxillae und in die Fossa pterygopalatina. Von dort verläuft die Linie über die dorsale Kieferhöhlenwand in der medialen basalen Kieferhöhlenwand wieder nach vorne zur Apertur. Das Nasenseptum ist kaudal frakturiert und häufig ist auch der untere Teil des Processus pterygoideus abgetrennt.

2.2.2 Le Fort-II-Fraktur

Bei diesem Frakturtyp kommt es zur Abtrennung des Oberkiefers, der Nasenbeine und des Nasenseptums vom cranialen Schädelskelett und vom lateralen Mittelgesicht. Die Frakturlinie verläuft von der Sutura nasofrontalis über die Sutura frontomaxillaris durch das Tränenbein zum Orbitaboden. Von dort ­verläuft sie durch den Infraorbitalrand über die faziale Kieferhöhlenwand zur Crista zygomaticoalveolaris. Der weitere Verlauf der Frakturlinie erstreckt sich um das Tuber maxillae in den Processus pterygoideus, von dort durch die Lamina perpendicularis des Os palatinum und die mediale Kieferhöhlenwand über das Ethmoid zur medialen Orbitawand in die Nasenwurzel. Von der Nasenwurzel verläuft die Fraktur durch das Nasenseptum nach kaudal und endet am Hinterrand des Vomer. Die Integrität der Orbita wird bei diesem sog. Pyramidenbruch zerstört [18].

2.2.3 Le Fort-III-Fraktur Abb. 1  Verlauf der vertikalen und horizontalen Trajektorien des Mittelgesichts.

Bei dieser Fraktur ist der gesamte Gesichtsschädel vom Gehirnschädel abgetrennt. Die Frakturlinie verläuft von der Sutura nasofrontalis über die mediale Orbitawand und den Orbitabo-

Kühnel TS, Reichert TE. Traumatologie des Mittelgesichtes.  Laryngo-Rhino-Otol 2015; 94: S206–S247

Heruntergeladen von: University of British Columbia. Urheberrechtlich geschützt.

2.1 Anatomie

7

Referat S209

den zur Fissura orbitalis inferior. Von dort verläuft die Bruchlinie durch die laterale Orbitawand zur Sutura zygomaticofrontalis und durch die Jochbögen. Von der Sutura nasofrontalis zieht die Frakturlinie nach innen durch das Ethmoid und die Lamina perpendicularis des Os palatinum zur Fossa pterygopalatina. Der Processus pterygoideus ist ebenfalls frakturiert und das Vomer kann am Übergang zum Os sphenoidale durchtrennt sein. Bei Le Fort-II- und -III–Frakturen kann es aufgrund der Frakturen im Bereich des Os ethmoidale zur Verletzung der Lamina ­cribrosa und damit auch zu einem Liquorleck kommen. Ebenfalls betroffen sein können Os frontale und Os sphenoidale.

2.3 Zugangswege

Abhängig von der Frakturversorgung wird einer der standardisierten Zugänge gewählt: Der transorale Zugang, die transkonjunktivalen Inzisionen, der intranasale Zugang und die transkuta▶  Abb. 1). nen Zugangswege [13, 16] ( ● Die Wahl des operativen Zugangswegs zur kraniofazialen Region und zur Frontobasis hängt von der Lokalisation und vom Ausmaß der Mittelgesichtsverletzungen ab. Der Zugangsweg wird so gewählt, dass eine gute Übersicht für die geplante Frakturreposition und Osteosynthese für alle involvierten Fachdisziplinen möglich ist. Gleichzeitig sollten die Schnittführungen in ästhetisch unauffälliger Weise (z. B. parallel zu den Hautspannungslinien und unter Berücksichtigung ästhetischer Einheiten) und mit e ­ iner guten Erweiterungsmöglichkeit erfolgen [13]. Die Berücksichtigung der speziellen motorischen und sensiblen Innerva­tionsverhältnisse im Gesicht ist dabei selbstverständlich. Insbesondere in jüngerer Zeit besteht das Bestreben, ausgedehnte transfaziale oder coronare Zugänge zu vermeiden und wenn möglich wenig invasive und äußerlich nicht sichtbare operative Zugänge zu verwenden. Zu diesen Zugängen zählen i­ nsbesondere die transkonjunktivalen und intraoralen Schnittführungen, die allerdings teilweise technisch deutlich anspruchsvoller und zeitaufwändiger sind als die klassischen transkutanen und ­ ▶  Tab. 1). transfazialen Schnittführungen [13, 23] ( ● Die breite Akzeptanz der starren Endoskope in der Visualisierung komplexer anatomischer Zusammenhänge, v.  a. in der Nasennebenhöhlenchirurgie entzündlicher Erkrankungen, hat ­ zu grundlegenden Veränderungen der Zugangswege und der OP-Technik auch in der Traumatologie geführt. Das Ziel ist stets, ebenbürtige Ergebnisse der Rekonstruktion bei gleichzeitig ­geringerer Morbidität zu erzielen. Für Siebbein- und Rhinobasisfrakturen ist daher heute der endonasale, endoskopisch

­ estützte Zugang weit verbreitet. Vor allem bei Frakturen der g Keilbeinhöhle ist er annähernd konkurrenzlos [24]. Simultane, interdisziplinäre Eingriffe mit neurochirurgisch-­ rhinochirurgischer und MKG-chirurgischer Beteiligung bei ausgedehnten Verletzungen fordern meist einen offenen Zugang. Der koronare Bügelschnitt ist vorteilhaft wegen seiner hervorragende Übersicht und der Möglichkeit einen vaskularisierten Lappen (Galeaperiost) für die Rekonstruktion der Schädelbasis zu gewinnen. Nachteil ist das relative große Operationstrauma, die lange Narbe, die beim haarlosen Patienten stark auffallen kann, das Risiko von Sensibilitätsstörungen an der Stirn und in seltenen Fällen eine Alopezie entlang des Schnittes. Die in jüngerer Zeit an Bedeutung zunehmenden transorbitalen Zugänge werden im Referat von H. Gassner ausführlich dargestellt. In Ausnahmefällen hat der subkranielle Zugang seine Berechtigung. Er bietet eine gute Übersicht der vorderen Schädelbasis und hilft eine Trepanation zu vermeiden, wenn eine Fraktur extrakraniell, extradural versorgt werden kann. Seine vorwiegende Bedeutung hat er jedoch in der Tumorchirurgie. Wenn er nicht über einen Bügelschnitt verfolgt wird, sondern über eine beidseitige Killianinzision mit Verbindung über dem Nasensteg, resultiert eine unschöne Narbe (Siebenmannschnitt). Der Killian-Zugang wird bei nasoethmoidalen Frakturen eingesetzt, wenn sich der Bügelschnitt verbietet und wenn transkonjunktivale Zugänge keine ausreichende Übersicht bieten. Für Maßnahmen am Siebbein und der Keilbeinhöhle ist er heute entbehrlich.

2.4 Symptome

Klinische Hinweise auf Frakturen sind Sensibilitätsverlust der Haut, Stufenbildung, Diplopie, Emphysem, Epistaxis und ­Hyposphagma. In zwei Dritteln aller Fälle mit dem Symptom „Blaues Auge“ findet sich im CT eine Fraktur als Ursache [25]. In einer prospektiven Studie mit 2262 Patienten untersuchten Yadav et al. den prädiktiven Wert von 6 klinischen Symptomen, um die Indikation für die CT-Diagnostik zu prüfen. Zu den Symp­ tomen, denen alle gleiches Gewicht beigemessen wird, gehören: Nachgiebiger Orbitarand, periorbitales Emphysem, subkonjunktivale Blutung, Schmerz bei Bewegung des Auges, Motilitätseinschränkung und Epistaxis. Sie fanden in nur 15,9 % ihrer Patienten mit stumpfem Trauma der Orbita eine versorgungswürdige Fraktur. Patienten, die keines der 6 Symptome aufwiesen, hatten in 6,3 % dennoch eine radiologisch nachweisbare Fraktur [26].

Kühnel TS, Reichert TE. Traumatologie des Mittelgesichtes.  Laryngo-Rhino-Otol 2015; 94: S206–S247

Heruntergeladen von: University of British Columbia. Urheberrechtlich geschützt.

Abb. 2  Le Fort – Frakturen.

7

S210 Referat

Abb. 3  Operative Zugangswege zum Mittelgesicht. Die Bezeichnungen der Schnittführungen sind in Tabelle 1 aufgelistet. Modifiziert nach [13].

KI

LBI GI

OBI

TKI

SZS UMS IOS

Tab. 1  Operative Zugangswege zum Gesichtsschädel (mod. nach [13]). Schnittführung/­Zugangsweg Transoraler/intraoraler Zugang Obere vestibuläre Sulkusinzision (OSI) Transkonjunktivale Inzisionen (TKI; ●  ▶  Abb. 3) A: unterer Fornix B: trans-/präkarunkulär C: retrokanthal Kombination von A, B, C Kombination von (ggf. B) und C, latherale Kanthotomie Intranasaler Zugang (z. B. infra- oder interkartilaginär/parakollumellär, Transfixionsschnitt) Transkutane Zugänge Anterior Subziliarschnitt (SZS), Unterlidmittenschnitt (UMS), Infraorbitalschnitt (OS) Laterale Augenbraueninzision (LBI) Modifizierte obere Blepharoplastik- inzision (OBI) Glabellainzision/Brillenschnitt (GI) Posterior Koronare Inzision (KI; Bügelschnitt nach Unterberger) ggf. mit Extension nach prä- oder retroaurikulär

Epistaxis ist ein regelmäßiges Symptom bei Gesichtsverletzungen mit frontaler Krafteinwirkung. Diffuse Blutungen aus der Nasenschleimhaut oder Blutungen aus umschriebenen Lazera­ tionen der Schleimhaut lassen sich typischerweise durch konservative Maßnahmen wie Tamponade oder bipolare Elektrokoagulation in Lokalanästhesie beherrschen. Einrisse an der Apertura piriformis und an der kaudalen Septumschleimhaut sind häufig und können zu nennenswerten Blutungen aus der Nase führen. Die zuführenden Gefäße sind einerseits dem Stromgebiet der A. facialis und andererseits der A. ethmoidalis zuzuordnen. Bedrohliche Blutungen aus den dorsalen Abschnitten der Nase haben ihren Ursprung im Stromgebiet der A. carotis externa und betreffen die Endäste der A. sphenopalatina. Blutungsereignisse im Kontext einer Mittelgesichtsverletzung ­ treten nicht nur unmittelbar, sondern auch nach langen Zeitintervallen auf. Späte vaskuläre Komplikationen beschreiben ­Newman et al. in 1–11 % nach stumpfem Gesichtstrauma [27]. Wenn heftiges Nasenbluten auch Jahre nach einer Schädelhirnverletzung auftritt, so kann dies erstes Zeichen eines gedeckten

Exposition/Darstellung Le Fort -1- Ebene, faziale Kieferhöhlenwand, Crista zygomaticoalveolaris, ­untere Nasenapertur, Nasenboden, Septum Infraorbitalrand, inferomediale Orbitawände Mediale Orbitawand Laterale Orbitawand Untere Zirkumferenz der internen Orbita Untere Zirkumferenz der inneren Orbita (ca. 210 Grad) Flügelknorpel, Septum, Nasenrücken

Infraorbitalrand, medioinferolaterale Orbitawände Stirnbeinpfeiler, superolateraler Orbitaquadrant Stirnbeinpfeiler, laterale Orbitawand, oberer Anteil Sutura zygomaticosphenoidalis Stirn, Sinus frontalis, Nase, Supra- und Interorbitalregion, mediosuperiore Orbitawände, Ethmoid, mediale Kanthusstrukturen Stirn, temporoparietale Region, Sinus frontalis, Nase, Supra- und Interorbitalregion, obere Zirkumferenz der internen Orbita/Periorbita, ca. 300 Grad – ­ausschließlich Orbitaboden (inferiore Orbitawand), Ethmoid, mediale Kanthusstrukturen, Kiefergelenke und Gelenkhalsregion

Aneurysmas sein [21]. Bei Le Fort-II- und -III–Frakturen besteht ein hohes Risiko einer stumpfen Carotisverletzung. Biffl et al. fanden bei dieser (und anderen Hochrisikoverletzungen) bei 41 % von 249 Patienten eine Gefäßbeteiligung und raten zur spezifischen Diagnostik [28]. Hierzu gehören kontrastierte CT-Untersuchungen, MR-Angiografien oder katheterangiografische Verfahren [29–31]. Frakturen, die durch den Carotiskanal ziehen, können zu Pseudoaneurysma, Dissektion der Gefäßwand, Thrombose mit konsekutiver Erblindung oder Insult und zur Carotis-Sinus cavernosus-Fistel führen [32, 33]. Die Carotis-Sinus cavernosus-Fisteln werden klinisch durch Fehlstellung des ipsilateralen Auges und durch einen ggf. auch pulsierenden Exoph­ thalmus auffällig [34–36]. In seltenen Fällen kann es auch zu druckbedingten Lähmungen des N. abducens kommen [37]. Die Therapie ist radiologisch interventionell und im Detail abhängig von der Größe des Loches, das die A. carotis interna in ihrem ­kavernösen Anteil mit dem Sinus cavernosus verbindet. Kleine Löcher ­werden mit Coils, größere mit Ballons endoluminal ver-

Kühnel TS, Reichert TE. Traumatologie des Mittelgesichtes.  Laryngo-Rhino-Otol 2015; 94: S206–S247

Heruntergeladen von: University of British Columbia. Urheberrechtlich geschützt.

OSI

7

Referat S211

2.5 Radiologische Diagnostik

In der bildgebenden Diagnostik der Gesichtsschädelfrakturen spielt das konventionelle Röntgenverfahren keine wesentliche Rolle mehr [39]. Bei 1 144 Patienten mit Mittelgesichtsfrakturen fanden Büttner und Mitarbeiter in 33,9 % mehr als eine Fraktur. Die Frakturverläufe zeigten eine klare Dichteverteilung im lateralen Mittelgesicht. Mandibulafrakturen gehen meist mit weiteren knöchernen Verletzungen einher. Isolierte Frakturen der Mandibula wurden in dieser Untersuchung dagegen nur in 1 % der Fälle gefunden. Die Indikation zur CT bei geringgradigen Schädelhirnverletzungen1 wird kontrovers diskutiert und die Handhabung ist uneinheitlich. Es besteht ein deutlicher Trend zur Ausweitung der CT-Diagnostik, obwohl bei dieser Patientengruppe nur selten versorgungswürdige neurologische Defizite gesehen werden. In der „Canadian CT Head Rule for patients with minor head injury“ wird ein Vorschlag zur sinnvollen Indikationsstellung dargelegt. Hochrisikopatienten werden durch folgende Symptome charakterisiert und sollten ein CT erhalten: Weniger als 15 Punkte auf der Glasgow Coma Scale 2 Stunden nach dem Ereignis, Verdacht auf offene oder imprimierte Schädelfraktur, klinische Zeichen einer Schädelbasisverletzung, Erbrechen (mehr als 2 Ereignisse), Alter 65 Jahre oder mehr. Ein mittleres Risiko für eine Hirnverletzung wird bei diesen Symptomen gesehen: Mehr als 30 min retrograde Amnesie, gefährlicher Unfallmechanismus (dazu gehört der Zusammenstoß zwischen Fußgänger und Auto, Sturz aus einer Höhe von mehr als einem Meter und wenn ein Insasse aus dem Auto geschleudert wurde) [39]. Verunfallte Patienten erhalten in der Notaufnahme stets ein kraniales Computertomogramm (CCT), wenn eine Schädelverletzung angenommen werden muss. Von diesen haben 12 % auch Frakturen des Gesichtsschädels. Diese werden durch das CCT in nur 16 % so ausreichend erfasst, dass im weiteren Verlauf der Versorgung kein zusätzliches CT benötigt wird. Es ist daher sinnvoll, während der initialen bildgebenden Diagnostik gleich ein Mittelgesichts-CT zu veranlassen, um spätere zeit- und kostenintensive Diagnostik zu vermeiden [40].

1

 Definition der geringgradigen Schädel-Hirn-Verletzung: Bewusstlosigkeit, Amnesie oder Desorientiertheit und 13-15 Punkte auf der Glagow Coma Scale

2.6 Prinzip der operativen Versorgung

Die operative Frakturreposition und Osteosynthese von Patienten mit Mittelgesichtsfrakturen wird in der Regel in Allgemein­ narkose durchgeführt. Lediglich eine geschlossene Nasenbeinreposition oder die Versorgung einer isolierten Jochbogenfraktur können in manchen Fällen auch in lokaler Anästhesie, ggf. mit Sedierung erfolgen [41–43]. Für die Versorgung zentraler Mittelgesichtsfrakturen mit Frakturen sowohl im Bereich des Nasenskeletts als auch im Bereich des zahntragenden Oberkiefers kann die Wahl der Lage des ­Tubus für die Intubationsnarkose schwierig sein [13, 44]. Auf der einen Seite muss die Nase für die Reposition frei zugänglich sein und auf der anderen Seite ist die Kontrolle der Okklusion für eine korrekte Reposition des Oberkiefers zwingend notwendig. Häufig wird zur Sicherung der Okklusion auch eine mandibulomaxilläre Fixierung mindestens für die Dauer der Operation durchgeführt. Daher kann es notwendig sein, die Lage des Tubus innerhalb der Frakturversorgung von nasal zu oral oder umgekehrt zu wechseln. Weitere Möglichkeiten bestehen darin, den Tubus hinter den Zahnreihen oder ggf. durch Zahnlücken zu ­positionieren, den Tubus submental auszuleiten oder den Pa­ tienten primär zu tracheotomieren [13, 45–47]. Die Frakturversorgung eines Patienten mit einem Mittel­ gesichtstrauma erfolgt üblicherweise in Rückenlage [23]. Im F ­ alle einer intraoperativen Navigation kann eine Fixierung des Kopfes notwendig sein [48]. Für eine intraoperative Röntgendiagnostik ist die Verwendung einer Kopfschale aus Carbon empfehlenswert. Im Rahmen der operativen Versorgung von Mittelgesichtsfrakturen werden standardmäßig eigens dafür vorbereitete Opera­ tionssiebe benutzt. Diese werden durch spezielles Osteosynthesematerial ergänzt [13, 49]. Es besteht aus typischen Mini- und Mikroplatten in unterschiedlichen Formen mit den dazugehörigen Osteosyntheseschrauben in verschiedenen Längen [50]. Die Platten und Schrauben bestehen aus Titan und werden in eigenen resterilisierbaren Sets vorgehalten. Neben den klassischen Platten werden in speziellen Indikationen auch Titangitter („meshes“) oder vorgeformte Platten wie die 3D-Titanorbitaplatte benutzt [25, 26]. Insbesondere bei der Rekonstruktion des Orbitabodens kommen neben den Platten und Gittern aus Titan auch andere alloplastische Materialien wie Polydioxan (PDS) oder poröses ­ ­Polyethylen zur Anwendung [51]. Bei Kindern wird aufgrund der möglichen Wachstumshemmung und Migration der Platten ­häufig resorbierbares Osteosynthesematerial verwendet [20]. Für nasoethmoidale Frakturen haben sich resorbierbare Materialien bislang nicht durchgesetzt. Es gibt noch keine Literatur, die den Vergleich zu Titansystemen ermöglicht. Bei pädiatrischen Frakturen werden sie in ausgewählten Fällen eingesetzt [52]. Die Argumente gegen resorbierbare Materialien sind gut bekannt und unwiderlegt: Die Materialstärke ist im zentralen Mittelgesicht zu groß, die Infektionsrate ist höher als bei Titan und die Operationszeit ist länger [50, 53, 54]. Grundsätzlich sollen die knöchernen Fragmente in ihre anatomisch korrekte Position reponiert und stabil fixiert werden. Ziel ist die Wiederherstellung von Form und Funktion aller Strukturen des Mittelgesichts und dies auf eine möglichst atraumatische Weise [12–14]. Die Wiederherstellung der korrekten Okklusion ist bei der operativen Versorgung einer Mittelgesichtsfraktur, die die zahntragenden Abschnitte des Mittelgesichts betrifft, eines der wichtigsten Ziele [15]. Aus diesem Grunde ist in vielen Fällen zumindest eine temporäre mandibulo-maxilläre Fixierung (MMF) über Drahtbogenkunststoffschienen oder MMF-Schrauben not-

Kühnel TS, Reichert TE. Traumatologie des Mittelgesichtes.  Laryngo-Rhino-Otol 2015; 94: S206–S247

Heruntergeladen von: University of British Columbia. Urheberrechtlich geschützt.

schlossen. In einer Serie von 32 Patienten konnten Malan und Koautoren in 66 % die ipsilaterale Carotis interna erhalten [35]. Intraorbitale Gefäßverletzungen können Ursache für ein orbitales Compartmentsyndrom sein (s. auch Traumatische Neuropathie der Hirnnerven S. 227). Sie treten iatrogen nach ophthalmologischen, rhinologischen Operationen und nach Traumata auf. Neben den Entlastungsoperationen der Orbita werden drucksenkende Maßnahmen und die Drainage über Katheter empfohlen [38]. Die betroffenen Adern sind dabei meist Teil der chorioidalen Blutversorgung die aus der A. ophthalmica gespeist wird. Abrisse der A. ophthalmica selbst sind selten und nur bei schwersten Mittelgesichtsverletzungen zu finden. Stets gehen diese mit Erblindung einher. Blutungen aus der A. carotis interna selbst können fatal sein. Wenn der schwer traumatisierte Patient rechtzeitig Hilfe erhält, ist primär die Tamponade mit Gaze angezeigt. Es kann versucht werden, den Blutfluss durch temporären Druck von außen am Hals zu reduzieren. Die Katheterangiografie mit endoluminaler Okklusion wird sich anschließen.

7

S212 Referat

2.7 Antibiotikaprophylaxe bei Mittelgesichts­ verletzungen

Die antimikrobielle Therapie bei nachgewiesener Infektion ist nicht Gegenstand des Referats. Im Folgenden werden daher nur die Ansichten zur prophylaktischen Gabe eines Antibiotikums bei Gesichtsverletzungen dargestellt. Es geht dabei letztlich um die Frage, wie viel Prophylaxe sinnvoll ist, um einerseits einer Infektion vorzubeugen, andererseits einer Keimselektion keinen Vorschub zu leisten und Nebenwirkungen der Antibiotikatherapie zu vermeiden [55]. Die perioperative Gabe von Antibiotika entspricht dem heutigen Behandlungsstandard für die meisten operativen Eingriffe in der HNO und MKG-Chirurgie. Für die Versorgung der Mittelgesichtsfrakturen sind mindestens 2 von 3 der Indikationen erfüllt, die in der AWMF-Leitlinie zur perioperativen Antibiotikaprophylaxe niedergelegt sind [55, 56]. Dabei gilt es als erwiesen, dass die 2 Stunden vor dem Eingriff gegebene antimikrobielle Prophylaxe zu einer niedrigeren Infektionsrate im OP-Gebiet führt als wenn das Medikament außerhalb dieser zeitlichen Vorgabe ­gegeben wird [57]. Um den Effekt des Antibiotikums zu gewährleisten, muss die erste Gabe so rechtzeitig erfolgen, dass therapiewirksame Gewebespiegel vom Operationsbeginn bis zum Operationsende erzielt werden. Für Eingriffe bis zu 2 Stunden genügt eine einmalige Gabe [55]. In einer aktuellen Studie konnten Lauder und Koautoren zeigen, dass die zusätzliche Anwendung von Antibiotika außerhalb des perioperativen Zeitraums die Rate an postoperativen Infektionen nicht zu senken vermag [58]. Auch in Fällen ausgedehnter Weichgewebeverletzungen und multipler, offener Frakturen ist

eine andauernde Prophylaxe nicht sinnvoll. Die möglichst umgehende Gabe eines Cephalosporins ist geeignet, die Infektions­rate zu senken, darüber hinausgehende Medikation hat keinen Vorteil [59]. Diese Ergebnisse werden von anderen Autoren bestätigt. So fanden Soong et al. keine Unterschiede bei ein- und 5-­ tägigem Antibiotikaregime mit 625  mg Amoxicillin und ­Clavulansäure bei dislozierten Jochbein- oder Le Fort-Frakturen hinsichtlich der Infektionsinzidenz [313, 314]. In einer anderen Studie konnte auch bei Orbitafrakturen kein Unterschied zwischen der eintägigen Gabe von Amoxicillin und Clavulansäure gegenüber der 5-tägigen Therapie festgestellt werden, sodass die Autoren zur perioperativen Antibiotikatherapie raten.

2.8 Interdisziplinäre Kooperation

Die überwiegende Zahl der Verletzungen des Mittelgesichts und angrenzender Strukturen, wie Frontobasis und Orbitainhalt fallen in den Aufgabenbereich mehr als einer medizinischen Disziplin [61]. In Diagnostik und Therapie ist häufig die Expertise von Radiologen, Anästhesisten, Neurochirurgen, Intensivmedizinern, Ophthalmologen, Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen und Hals-Nasen-Ohrenärzten erforderlich, um ein optimales Ergebnis der Traumaversorgung zu erreichen [13, 62, 63]. Ein sequenzielles, streng nach Fachgebieten getrenntes Vorgehen hat sich für Patienten mit ausgedehnten Mittelgesichtstraumata und Beteiligung angrenzender kritischer Strukturen nicht bewährt. Unnötige mehrfache Narkosen, zeitliche Verzögerungen und relevante Behinderungen im Ablauf wären die Folge. Stattdessen sollte das für den Patienten verantwortliche Team so zusammengesetzt sein, dass die für die komplette Versorgung notwendige Fachkompetenz vorhanden ist. Nur dann kann der individuell optimale Behandlungsablauf korrekt geplant und durchgeführt werden. Die interdisziplinäre Abstimmung betrifft dabei die notwendige Diagnostik, die operativen Zugangswege, die Bereitstellung der Instrumente und zusätzlicher Techniken, die Abfolge der Frakturversorgung und die postoperative Nach­ sorge. Für die bestmögliche Patientenbetreuung und für ein reibungsarmes Management sind nachvollziehbare und klar ­ ­definierte Abläufe erforderlich. Diese sollen sachbezogen und einfach sein, v. a. aber den verschiedentlich anzutreffenden Begehrlichkeiten, das eigene Fachgebiet zu Ungunsten einer ­ Nachbardisziplin auszudehnen, keinen Raum geben.

3. Zentrales Mittelgesicht



3.1 Frakturen der Nasenbeine, des Nasenseptums und des nasoethmoidalen Komplexes 3.1.1 Nasenbeinfrakturen

Verletzungen der äußeren Nase und Nasenbeinfrakturen sind die häufigsten Verletzungen des Mittelgesichtes [64, 65]. Das Geschlechterverhältnis beträgt von12–37 % weibliche zu 63–88 % männliche Patienten mit einem Altersmedian von 27 Jahren [66, 67]. Rohheitsdelikte führen mit 80 % als Ursache der Frakturen [67]. Die Frakturlinie verläuft meist senkrecht zur Achse der Nase und ist häufig (78,8 %) mit Frakturen des knöchernen und knorpeligen Septums vergesellschaftet [68]. Septumfrakturen ihrerseits sind Ursache komplikationsträchtiger Septumhä­ matome, die als chirurgischer Notfall einzustufen sind [66]. Auf Grundlage eines Hämatoms führen Infektionen zum Septum­ abszess. Es kann rasch zur Nekrose des Knorpels kommen, eine Sattelnasendeformität mit funktionellen Störungen ist in solchen Fällen wahrscheinliche Folge [31]. Um diesen Komplikatio-

Kühnel TS, Reichert TE. Traumatologie des Mittelgesichtes.  Laryngo-Rhino-Otol 2015; 94: S206–S247

Heruntergeladen von: University of British Columbia. Urheberrechtlich geschützt.

wendig, um die Okklusion zu sichern. Bei der Frakturversorgung sollten prinzipiell zuerst alle Frakturen dargestellt werden, bevor man mit der ersten Osteosynthese beginnt [15]. Ansonsten droht die Fixierung von Fragmenten in Fehlposition und Behinderung der Reposition der Fraktur an anderer Stelle. Die Zahl, Größe und Position der jeweiligen Platten hängt von den anatomischen und biomechanischen Gegebenheiten der individuellen Fraktursituation ab. Prinzipiell jedoch werden die Platten ­entlang der horizontalen und vertikalen Stützpfeiler des Mittelgesichts platziert. Für die Osteosynthese werden in der Regel Mini- und Mikroplattensysteme verwendet, die mit monokortikalen Osteosyntheseschrauben befestigt werden. Die Reposition und Osteosynthese einer ausgedehnten Mittelgesichtsfraktur beginnt in der Regel mit der Wiederherstellung und Sicherung der Okklusion, als zuverlässige Referenz für alle weiteren Schritte der Frakturversorgung [15]. Anschließend werden von oben beginnend und damit in Referenz zur Schädelbasis und zu fest stehenden intakten Knochenstrukturen die Fragmente reponiert und mit Miniplatten fixiert. Dann wird die Reposition eine Ebene tiefer fortgesetzt („top down“) [13, 15, 16]. Durch dieses Vorgehen wird zunächst ein äußerer Rahmen des Mittelgesichts, bestehend aus dem zygomatikofrontalen Übergang, den Jochbeinen und dem zygomatikomaxillären Übergang aufgebaut [13]. Anschließend werden unter mandibulo-maxillärer Fixierung der korrekten Okklusion die zentralen Anteile des Mittelgesichts (nasoethmoidaler Komplex, Le Fort I- und II-Ebene) und die Orbitae versorgt [13]. Jede Fehlpositionierung der knöchernen Strukturen im Bereich des Mittelgesichts führt zu unharmonischen Erscheinungsbildern der Weichgewebe des Gesichtes und damit zu schlechten ästhetischen Resultaten. Zusätzlich können auch massive funktionelle Störungen in Form von Okklusions- und Sehstörungen die Folge sein [15].

7 Tab. 2  Geringgradige Kopfverletzungen [39] (Bogusiak And Arkuszewski 2010). Unfallmechanismus geringgradige Kopfverletzungen Sturz Verkehrsunfall Körperverletzung Sportunfall Fußgängerunfall Schlag gegen den Kopf/von einem Gegenstand getroffen Motorrad Andere

31 % 26 % 11 % 10 % 6 % 6 % 4 % 31 %

nen vorzubeugen, soll die Drainage innerhalb eines Zeitfensters von 24 Stunden erfolgen [68, 69]. Die antiinfektiöse Therapie wird mit einem Breitbandantibiotikum bis zum Eintreffen des mikrobiologischen Befunds durchgeführt. Als häufigster Keim wird Staphylococcus aureus angegeben, gefolgt von Hämophilus influenzae, Streptokokkus pneumoniae und β-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe A. Als Antibiotikum wird Penicillin oder Clindamycin empfohlen [70]. Wenn es bereits zur Nekrose des Septumknorpels gekommen ist, soll die unmittelbare Rekonstruktion mit autologem Conchaknorpel, ggf. verstärkt mit Polydioxan-Folie durchgeführt werden, um der Formveränderung der äußeren Nase entgegenzuwirken [66, 71]. Auch wenn es sich um meist einfache Bruchformen handelt, birgt die exakte Diagnostik Schwierigkeiten. Der klinischen Untersuchung kommt die größte Bedeutung zu. Typische Symptome sind Epistaxis, Weichteilschwellung, Hämatome und Nasenatmungsbehinderung. Vor allem bei langsam sich entwickelnder Nasenatmungsbehinderung muss frühzeitig an ein Septumhä­ matom oder an einen Septumabszess gedacht werden. Die Palpation hilft klassische Frakturzeichen zu entdecken. Wenn die regelhaft vorhandene Schwellung den Befund einer abnormen Beweglichkeit und Krepitation verhindert, muss nach lokal abschwellenden Maßnahmen die Untersuchung wiederholt werden [68]. Seitliche Röntgenaufnahmen sind von geringer Aussagekraft und werden nicht empfohlen [69, 72, 73]. Kindliche Nasenverletzungen werden durch das gleiche Vorgehen erfasst. Auch hier ist es wichtig, der genauen klinischen Untersuchung zu vertrauen und sich nicht auf Röntgenbilder zu verlassen [66, 74, 75]. Unstrittig ist die umfassende, auch radiologische Untersuchung bei schweren Verletzungen. Schwieriger ist die Entscheidung bei kleinen Kopfverletzungen2, in deren Gefolge es zu Nasenbeinfrakturen kommen kann, da hier offensichtlich Nutzen der Untersuchung und Strahlenbelastung im Widerstreit stehen [77]. Vestergaard und Mitarbeiter untersuchten das Management aller Kliniken in Dänemark, die kindliche Verletzungen behandeln. Keine der Einrichtungen führte routinemäßig Röntgenuntersuchungen durch [77, 312, 313]. Auch bei unbedeutend erscheinenden Verletzungen des kindlichen Mittelgesichtes – Kinder mit mildem Schädel-Hirn-Trauma entwickeln in 10–20 % ein post-commotionelles Syndrom oder andere neurologische Komplikationen wie Konzentrationsschwäche, Persönlichkeitsveränderungen oder Probleme in der Erziehung [78] – muss an ein Septumhämatom, eine Septumfraktur und einen Septumabszess gedacht werden. Das Mukoperichondrium ist in der kindlichen Nase nur locker dem Knorpel angeheftet, sodass es von Blutungen leicht abgehoben werden kann. Álvarez beobachtete bei 37,5 % der Septumhämatome klei2

 Definiert als Glasgow Coma Scale 14–15, Bewusstlosigkeit  

[Trauma of the midface].

Fractures of the midface pose a serious medical problem as for their complexity, frequency and their socio-economic impact. Interdisciplinary approach...
2MB Sizes 44 Downloads 77 Views