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Warum es in Kliniken so viel Überdiagnostik gibt Bei präoperativen Untersuchungen und bei der Abklärung von Schwindel wird in Kliniken intensiver untersucht als in den Leitlinien der Fachgesellschaften für notwendig erachtet wird. Dem ging eine Studie auf den Grund.



Ärzte aus der allgemeinen Primärversorgung an US-amerikanischen Kliniken erhielten zwei Kasuistiken inklusive aktueller Ergebnisse von körperlicher Untersuchung, Labor und EKG. Sie sollten das übliche weitere Vorgehen in ihrer Klinik benennen. Im Fall eines 66-jährigen Patienten, bei dem eine Cholezystektomie erfolgen sollte, hatten die Ärzte die Optionen Abwarten, kardiologisches Konsil, Echokardiografie, Belastungs-EKG und Herzkatheter. Bei einem 59-jähriger Patienten nach einer Synkope mit RR-Abfall im Stehen von 120/70 auf 95/60 mmHg konnten sie sich zwischen Abwarten, Kipptischuntersuchung und kardialem Monitoring ggf. mit Echokar-

diografie und/oder Belastungs-EKG entscheiden. Die teilnehmenden Ärzte hätten vor der Operation in 52% der Fälle und nach der Synkope in 83% der Fälle mehr diagnostische Maßnahmen eingeleitet, als die jeweilige kardiologische Leitlinie es empfiehlt. Ursache der Überdiagnostik ist weniger die unzureichende Kenntnis der Leitlinien (34%), sondern der Wunsch der Ärzte, die Patienten und ihre Angehörigen zu beruhigen (35%), sich selbst abzusichern (19%) oder verschiedene andere Gründe (12%). ■ Kachalia A, Berg A, Fagerlin A et al. Overuse of Testing in Preoperative Evaluation and Syncope. A Survey of Hospitalists. Ann Intern Med. 2015;162:100–8

Kommentar Unnötige Diagnostik ist nicht nur teuer, sondern auch mit dem Risiko von Komplikationen und Folgeuntersuchungen verbunden. Die Autoren der Studie halten finanzielle Interessen, die häufig als Motiv für Überdiagnostik genannt werden, nicht für relevant, weil die befragten Ärzte im Angestelltenverhältnis standen. Nur ein Drittel der Ärzte gab an, die Leitlinien der Fachgesellschaften nicht zu kennen. Damit wird der Wunsch, Patienten und Angehörige zu beruhigen und sich selbst abzusichern, das wichtigste Motiv für Überdiagnostik. Dazu passt, dass umfangreiche Untersuchungen wahrscheinlicher wurden, wenn die Angehörigen das wünschten und/oder als Arzt oder Rechtsanwalt identifiziert wurden. Es wird schwer sein, diese Ursachen zu begrenzen, solange der Patientenwunsch einen hohen Stellenwert hat und Ärzten Haftungsklagen drohen. Prof. Dr. med. H. Holzgreve ■

Infektionsrisiko

Reicht euch nicht mehr die Hände! Der Handschlag ist eine fest etablierte, international verstandene soziale Norm. Ärzte können gegenüber Patienten Empathie und Mitgefühl ausdrücken. Gleichzeitig ist allerdings klar, dass die Hände wichtige Vektoren für Krankheitsübertragung darstellen. Studien haben belegt, dass das Händeschütteln zu einer Transmission von pathogenen Keimen führt. Empfehlungen und Regeln zur Händehygiene und -desinfektion im Gesundheitssystem sind zwar reichlich vorhanden, die Compliance wird aber in

verschiedenen Studien mit nur rund 40% angegeben. Die der Patienten und Besucher wird noch deutlich darunter liegen. Das Verweigern des Handschlags wird in unserer soziokulturellen Norm als schwerste Beleidigung aufgefasst und stört nachhaltig das Arzt-Patienten-Verhältnis, wenn es nicht wenigstens schriftliche oder bildliche Hinweise gibt. Alternativen wären unter infektiologischen Aspekten das Winken, das Verbeugen, die Hand aufs Herz oder die südostasiatische Namaste-Geste. Drei Ärzte von der University of California in Los Angeles plädieren nun für eine breit angelegte mediale Kampagne gegen das Händeschütteln. Auch in der ärztlichen Ausbildung sollten die Alternativen vermittelt werden.

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Obwohl der Gedanke so einleuchtend ist, wird es ein persönlicher, kultureller und sozialer Kraftakt werden, den Handschlag aus dem ärztlichen Alltag zu verbannen. Die Geste erscheint, gerade im ärztlichen Alltag, wie ein Überbleibsel aus der Zeit von Ignaz Semmelweis. Das wissenschaftliche Establishment lehnte damals neue Erkenntnisse ab und bekämpft gar den Urheber. Wir sollten uns vor einem solchen Semmelweis-Reflex hüten. Dr. med. B. K. Dreimüller ■

Welche Keime überträgt Dr. Freundlich hier gerade?

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■ Sklansky M, Nadkarni N, Ramirez-Avila L. Banning the handshake from the health care setting. JAMA. 2014;311:2477–78

MMW-Fortschr. Med. 2015; 157 (7)

[Why there are so many overdiagnoses in clinics].

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