332

Adolf Meyer und die Beziehungen zwischen deutscher und amerikanischer Psychiatrie U. H. Peters

AdolfMeyer and the Relations Between German and American Psychiatry

Zusammenfassung

German psychiatrists do not have an easy access to Adolf Meyer. The reasons include: his influence on American psychiatry was mainly exercised by his personal influence; he did not have the gift of writing his important and influential ideas in a clear language; these ideas, furthermore, were scattered over great number of papers in a variety of periodicals; there is only one unsatisfactory (from the point of view of edition) collection of Meyers papers; no textbook of Meyerian psychiatry exists. There seems to be no German translation of any of Meyers papers.

Adolf Meyer ist für die deutsche Psychiatrie schwer zugänglich, weil seine Einwirkung auf die amerikanische Psychiatrie vor allem durch persönliche Vermittlung vor sich ging, weil er seine inhalts- und folgenreichen Gedanken nicht in einer klaren Sprache zu formulieren verstand, weil die Gedanken in Einzelarbeiten verstreut erschienen sind, und die einzige Aufsatzsammlung unzulänglich ediert wurde, und es schließlich keine in Buchform vorliegende Darstellung seiner Lehre und seines Lebens gibt. Die Arbeiten Meyers wurden nicht ins Deutsche übersetzt.

Meyer, who was always in close contact with German psychiatry and psychiatrists, transmitteCl their ideas to the American scientific public, although in a critical vein. His own psycho-biological or genetico-psychodynamic theory pointed to the importance of the biological and personality structure and its reactions, of how the patient reacts to which live events and which illness in his or her body contrasts to Kraepelins concept of self-sufficiency of the endogenous psychoses. Whereas DSM I und 11 had been moulded in Meyers spirit, DSM III led far away from it.

Meyer hat die deutsche Psychiatrie in weitem Umfang den amerikanischen Psychiatern vermittelt, allerdings kritisch, und hat mit deutschsprachigen Psychiatern in persönlichem Kontakt gestanden. Seine eigene psychobiologische bzw. genetisch-psychodynamische Auffassung, wonach es auch beim psychisch Kranken darauf ankommt, mit welcher biologischen und Charakterstruktur er auf welche Lebensereignisse und welche Krankheit zu reagieren hat, wird der Kraepelinschen Auffassung von der Selbstherrlichkeit der endogenen Psychosen gegenübergestellt. DSM I und II wurden vom Geiste Meyers geprägt, mit DSM III erfolgte darin ein Umbruch.

Einleitung Adolf Meyer ist der erste Psychiater deutscher Sprache gewesen, der einen bedeutenden Einfluß auf die amerikanische Psychiatrie nehmen konnte, nachdem diese his dahin vollständig in der englischen Tradition gestanden hatte. Man kann nicht behaupten, daß seine Bedeutung allen amerikanischen Psychiatern stets bewußt ist, es hat aber doch eine größere Zahl von amerikanischen Veröffentlichungen gegeben, welche sich mit der Bedeutung von AdolfMeyer für den Gang der amerikanischen Psychiatrie befaßt haben (Camphell. Dreyer, Ebaugh, Grob, Henderson. Leys, Lidz, Mindham. Neill, Roofe, Stephens et al., Wang, Winters). In deutscher Sprache sind dagegen nur sehr wenige Berichte erschienen, meist zu speziellen Problemen (Diethelm, Walser). Selbst M. Bleuler (1962) veröffentlichte seinen Bericht über den ziemlich

Fortschr. Neurol. Psychiat. 58 (1990) 332- 338 © GeorgThieme Verlag Stuttgart· New York

entlegenen Schweizer Einfluß durch Kleinjogg auf AdollMeyer in englischer Sprache. Evtl. vorhandenes Wissen von Lehen und Werk AdolfMeyers beruht vor allem auf dem freilich schr kenntnisreichen biographischen Aufsatz seines ehenfalls in die USA ausgewanderten Schweizer Landsmannes Oskar Diethelm (Diethelm 1959). Darüber hinaus findet man in deutscher Sprache kaum mehr als den kleinen Aufsatz von Wa!.ver über Adolf Meyers wissenschaftliche Anfänge (Wa!.I'er 1966). Zum hesseren Verständnis des vorstehenden Aufsatzes von Melvin Sahshin über Adolf Meyer und die Wendepunkte der amerikanischen Psychiatrie soll hier eine kurze Erläuterung zu Adolf Meyer folgen, die freilich keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Eine Biographie Meyers fehlt noch vollständig. Auch das Werk ist schwer zugänglich, Werkerklärungen in deutscher Sprache fehlen noch. Vom Briefwechsel ist bisher ebenfalls nur ein verschwindend kleiner Teil veröffentlicht worden, obwohl Meyer offenbar mit zahlreichen deutschen Fachkollegen in einem regen Briefwechsel gestanden hat (G. Bodechtel, pers. Mitt.).

Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages.

Klinik und Poliklinik für Neurologie und Psychiatrie der Universität zu Köln

Ado/fMeyer und die Beziehungen zwischen deutscher undamerikanischel' Psychiatrie

Wenn jemand glaubt, die Leute hier ziehen einen Ausländer vor, so ist das ganz falsch. Auch ein schwach gebildeter aber erfahrener Amerikaner kennt die Klippen hier besser, und dadurch wirdja immer mehr geleistet als mit dem delikatesten Wissen oder Unzulänglichkeit medizinischer Wissenschaft und dem sich daraus ergebenden Forschungsdrang (Meyer an Fore! am 13. Aug. 1900; zit. n. Fore/. Briefe).

Wenn man sich vor Augen hält, daß Meyer sich zu gleicher Zeit gegen die bis dahin gültige Tradition des amerikanischen Anstaltswesens (wenn auch nicht ausdrücklich) sowie (sehr ausdrücklich) gegen die zu dieser Zeit eben vorherrschend werdende Kahlbaum-Kraepelinsche Krankheitsdoktrin wendet, kann man einigermaßen die Bedeutung seines Auftretens in der amerikanischen Psychiatrie und die Ausmaße seines Erfolges ermessen. Meyers Auswanderung Meyer (I S66-1950) wanderte nicht aus politischen oder sozialen, sondern aus persönlichen Gründen nach Amerika aus. Dazu hat er selbst in einem Brief an Fore!, der davon wußte, Andeutungen gemacht: Am Ende war der gemeine Streich. den mir E... spielte und der mich zur Auswanderung ..ermutigte", ein guter Dienst für mich gewesen. Ich muß allerdings viel dafür bezahlen, wenn ich an meine arme Mutter und an die trübseligen Tage in Chicago denke (Meyer an Fore! am 28. Dez. 1893; zit. n. Fore!, Briefe, S. 295).

Als Meyer 1892 mit 26 Jahren in die USA kam, hatte er nicht nur sein Medizinstudium abgeschlossen, sondern auch schon eine 2jährige Bildungsreise durch Europa unternommen. In London hatte er bei dem Neurologen J. Hughlings Jackson die Anwendung darwinistischer Theorien auf Vorstellungen von einer hierarchischen Anordnung der Hirnfunktionen gelernt. Jacksons Vorstellungen haben Meyer zeitlebens stark beeinflußt. Gleichzeitig hatte er bei Thomas Huxley in London Biologie und Neurologie studiert. Auch diese Zusammenhänge bestimmten sein Denken weiterhin. Eine besondere, tiefe und mehrschichtige Beziehung entwikkelte er jedoch zu dem bereits erwähnten August Forel, ohne freilich jemals dessen Mitarbeiter geworden zu sein. Erst aus dem veröffentlichten Briefwechsel Forels ist deutlich geworden, in welchem Maße Forel über viele Jahre der Mentor Meyers gewesen ist. Forel behandelte die in der Schweiz zurückgebliebene Mutter Meyers, die an einer paranoiden Melancholie litt (die oben zitierte Briefstelle spielt darauf an), und Forel, der selbst ein bekannter Insektenforscher war, war auch der Doktorvater zu Meyers Dissertationsarbeit über das Vorderhirn der Reptilien. Bei Fore! erhielt Meyer ferner eine gewisse Einführung in die Psychiatrie, in der Tat die einzige psychiatrische Unterweisung, die er je erhielt, über die er 1893, also kurz nach seiner Ankunft in den USA, und als er eben in Chicago seinen

333

ersten Psychiatrieunterricht für Studenten zu halten hatte, schrieb: Ich wünsche aufrichtig, ich hätte Ihre Klinik (klinisch-psychiatrische Vorlesungen, U. H. P.) mit mehr Verständnis verfolgt und auch länger besucht. Ein Semester und einige Kliniken später, als ich im Burghölzli arbeitete, das ist alles, was ich an Psychiatrie mit nach Amerika gebracht habe. Ich muß sagen, es zeigt sich jetzt, daß es eine gute Grundlage war, und ich hoffe, mit der Zeit so weit zu kommen, daß ich mich Ihr Schüler nennen darf, ohne daß Sie sich gegen eine solche Anmaßung verwahren müßten. Ist auch von dem Detail manches verschwunden und ganz dem Gedächtnis entfallen, so ist doch von dem Geist der Auffassung und der Methode manches hängengeblieben (Meyer an Fore! am 28. Dez. 1893; zit. n. Fore!, Briefe, S. 294).

Diese Selbsteinschätzung des Einflusses von Forel auf Meyer ist auch aus heutiger Sicht zutreffend. Ado/f Meyer ging zunächst als Pathologe an das völlig unbedeutende lllinois Eastern Hospital for the Insane in Kankakee. weil er dort eine Stelle bekommen konnte. Zugleich versuchte er aber mit Hilfe von Hemy Herhert Donaidson. den er während seiner europäischen Wanderschaft auf dem Psychologenkongreß in London kennengelernt hatte, eine amerikanische Universitätslaufbahn in die Wege zu leiten. Donaldson war Professor der Neurologie an der biologischen Abteilung der neu gegründeten Universität von Chicago. Nach einigen Monaten in Kankakee konnte Meyer an Forel berichten, daß er Dozent an der Chicagoer Universität geworden sei und Kurse zunächst für Neurologie und bald auch für Psychiatrie abhielt. Der Beginn einer psychiatrischen Laufbahn als Pathologe war zu dieser Zeit an sich nichts Ungewöhnliches. Denn man hatte gerade damit angefangen an einzelnen psychiatrischen Großkrankenhäusern (z. B. auch in Utah, im Staate New York) Prosekturen einzurichten, um im Gehirn verstorbener psychisch Kranker nach den Ursachen ihrer Krankheit zu forschen. Dies bedeutete für die USA die Einführung von wissenschaftlichen Gesichtspunkten in die sonst nach rein sozialen Gesichtspunkten geführten psychiatrischen Anstalten. Im übrigen wurden in Deutschland in dieser Zeit die Lehrstühle für Psychiatrie vor allem mit Hirnanatomen besetzt, weil man sich davon am meisten Aufklärung über das Wesen der Geisteskrankheit erhoffte. Ab 1895 hatte Meyer dann eine ganz ähnliche Position als Pathologe am Massachusetts Insane HO!Jpital in Worcester. Die für einen produktiven Wissenschaftler so wichtigen 10 Anfangsjahre der beruflichen Laufbahn verbrachte Meyer somit als Neurologe und Pathologe an psychiatrischen Staatskrankenhäusern und arbeitete sich zugleich vollkommen autodidaktisch in die Pathologie der Psyche ein. 1900, also 8 Jahre nach seiner Ankunft in den USA, bot man Meyer erstmals durch den Psychiater Edward Cowles eine bedeutendere Position an, nämlich als Leiter des Pathologischen Instituts von New York, nachdem der bisherige Leiter, van Gieson (bekannt durch die van Gieson-Färbung) auf Betreiben von Co wies abgesefzt worden war, worauf hier nicht im einzelnen einzugehen ist (Ado/f Meyer an August Forel am 13. Aug. 1900). Trotz der mit einer solchen Position verbundenen Gehaltsverbesserung schlug Meyer das Angebot aus, weil ihm die tägliche Arbeit in Worcester leichter erschien und ihm auch mehr Zeit für seine wissenschaftlichen Arbeiten ließ. Als ihm dieselbe Position 1902 ein zweites Mal angeboten wurde,

Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages.

Der Beitrag, den Ado/f Meyer zur amerikanischen Psychiatrie geleistet hat, kann kaum überschätzt werden (Lidz 1966) und ist doch schwer zu verstehen oder im einzelnen zu beurteilen. Manches läßt sich durch das erstaunliche, positiv zu wertende Außenseiterturn Ado/f Meyers erklären, der aber eben doch lange Zeit das Zentrum der amerikanischen Psychiatrie darstellte. Außenseiter war Meyer in vielerlei Hinsicht. Er war in den USA als Schweizer stets ein Ausländer und hat dies auch schmerzhaft gespürt, denn er schreibt dazu an seinen Mentor August Forel in der Schweiz:

FortschI'. Neuro/. Psychiat. 58 (1990)

Fortsehr. Neurol. Psychiat. 58 (1990)

nahm er das Angebot an und leitete damit einen wichtigen Wendepunkt in seinem Leben ein. Das pathologische Institut hatte die Sektionen für die psychisch Kranken New Yorks vorzunehmen. Meyer sorgte als erstes dafür, daß das Institut nach Wards Island, eine der New York vorgelagerten Inseln, ausgelagert wurde. Dort befand sich das riesige Manhattan State Hospital, die eigentliche psychiatrische Anstalt für New York mit bis zu 10.000 Patienten. Die Anstalt war eine kleine psychiatrische Stadt für sich, die sich allerdings damals in einem beklagenswerten Zustand befand. Innerhalb der Anstalt richtete Meyer erstmals einen theoretischen Unterricht für die dort tätigen Ärzte ein, was es bislang nicht gegeben hatte. Folgerichtig wurde das Institut in Institute of Psychiatry umbenannt. Es trägt heute noch diesen Namen, befindet sich aber wieder in der Stadt. Meyers Übergang in die Psychiatrie Bevor Meyer anfing, über psychiatrische Fragen zu publizieren, unternahm er 1896 nochmals eine 5monatige Reise durch Europa, die er auch dazu benutzte, die Verhältnisse an den bedeutendsten europäischen Zentren der Psychiatrie zu studieren. Während dieser Reise war er 6 Wochen lang Kraepelins Gast, der damals noch in Heidelberg lehrte. Während des Aufenthaltes von AdolJ Meyer in Heidelberg erschien die 5. Auflage des Kraepelinsehen Lehrbuchs der Psychiatrie, die Meyer für das American Journal ofInsanity besprach (Meyer 1896), allerdings kritisch. Wie Meyer selbst bekundete, hatte er sich bei seiner Einarbeitung in die Psychiatrie an der 3. Auflage des Lehrbuchs von Kraepelin orientiert (Kraepelin 1889), die noch den Charakter eines Kompendiums trägt. Auch die bald darauf erschienene 4. Auflage hatte er noch akzeptieren können (Kraepelin 1893). Die 5. Auflage forderte aber seine intensive Kritik heraus. Darüber sehreibt Meyer (1926) aus der späteren Rückschau: Den stärksten Eindruck machte auf mich das Verschwinden eines bequemen Begriffes, der der sekundären Demenz und die Verschiebung des Hauptgewichtes von der Kenntnis des Endzustandes auf den Verblödungsfall. Es handelt sich um eine weitgehende Berücksichtigung der Ursachen des Verlaufes und des Endzustandes, wobei aber tatsächlich die Ursachen mit übergroßem Skeptizismus behandelt wurden, als ob immer nur eine Ursache bestehen würde, und zwar nur unter "ultrawissenschaftlichen Bedingungen" annehmbar. Es kam deshalb dazu, daß alle etwa zugänglichen, möglicherweise kausalen Faktoren als unwichtig zur Seite geschoben wur· den.

Der Gedankengang ist hier etwa folgender: daß Kraepelin zu stark auf biologische Ursachen abhebt, indem er in übertriebener Naturwissenschaftlichkeit die aus dem sozialen Leben herrührenden Ursachen der Geisteskrankheit unberücksichtigt läßt. Dies letztere läßt sich nicht unmittelbar aus dem Zitat entnehmen, aber Meyer sagt es wiederholt an anderer Stelle. Ferner wirft er Kraepelin vor, eine "neue Form des nosologischen Dogmatismus" geschaffen zu haben, was ein später häufig wiederholter Standard-Vorwurf der amerikanischen Psychiatrie wurde. Ein Vergleich der späteren Äußerung mit dem frühen Original zeigt, daß Meyer im Laufe der Jahre seine Kritik an Kraepelin erheblich verstärkt hat. In der Besprechung hatte Meyer zutreffend herausgestellt, daß Kraepelins Lehrbuch "marks a complete revolution of the views generally held". Dann heißt es zwar, "several assertions of Kraepelin appear decidedly dogmatic at first sight", jedoch

U. H. Peters überwiegt durchaus das Lob. "To speak of a new c1assification only would be unjust. K. has really made changes in the very foundations of psychiatric teachings." Meyers Kritik bezieht sich darauf, daß Kraepelin immer wieder auf hypothetische Intoxikationen oder Auto-Intoxikationen als Ursache der Dementia praecox-Gruppe zurückkommt. Erst danach veröffentlichte Meyer eine erste eigene psychiatrische (Übersichts)arbeit als "kurze Skizzierung der Probleme der Psychiatrie" (Meyer 1897), die schon die Betonung des Biologischen für die Psychiatrie in einer für Meyer typischen Art erkennen ließ, jedoch noch nichts von dem, was als spezifische Meyersche Psychiatrie angesehen werden kann. Deutlicher - und in deutscher Sprache - kam dies erst viel später in einem Brief an Forel zum Ausdruck. In der letzten Zeit habe ich mich viel mit den psychogenen Prinzipien der Katatonie befaßt und dabei. glaube ich, die dogmatische Haltung Kräpe/ins ziemlich weit hinter mir gelassen. Es ist ganz außerordentlich interessant, wie fast jedes Ereignis sich klar ableiten läßt, und wie man so auf eine natürliche Anschauung, Prophylaxe und Therapie kommt. Ich werde demnächst einiges veröffentlichen (Meyeran Fore/am 5. Okt. 1906; zit. n. Fore!. Briefe, S. 3X6).

Meyers Formulierung von der "dogmatischen Haltung Kräpelins" läßt ein sorgfältiges Studium der Werke Kraepelins einerseits und Ablehnung der biologischen Grundhypothese andererseits erkennen. Gerade die Katatonie gilt bei Kraepelin als das fremdeste, von außen nicht beeinflußbare, selbstherrliche Leiden. Daß sich bei dieser Psychose "jedes Ereignis" psychologisch "klar ableiten läßt", bringt Meyer nicht nur im Gegensatz zu Kraepelin in der ihm darin folgenden deutschen Psychiatrie, sondern stellt zugleich ein Wiederanknüpfen an Ideen aus der deutschen Romantik dar (Pl'ters 1989), die auf diese Weise nach Amerika transportiert werden. Meyer blieb 8 Jahre lang in der leitenden Position am N ew Yorker Psychiatrie Institute und übernahm schließlieh 1910, im Alter von 44 Jahren, erstmalig eine klinisch-psychiatrische Aufgabe. Er wurde Professor für Psychiatrie am Johns Hopkins Hospital in Baltimore und war 19131940 zugleich Direktor der Henry Phipps Psychiatrie Clinic (sie wurde erst 1913 eröffnet). Von dieser Position aus entfaltete er 30 Jahre lang eine intensive Einwirkung auf die amerikanische Psychiatrie einerseits durch seine vorbildliche klinische Tätigkeit, andererseits aber auf persönlichem Wege. Oskar Diethelm. wie auch andere, hat anschaulich die sonntäglichen Nachmittage im Garten von Meyer beschrieben, wo man sich traf und diskutierte, obwohl sich Meyer auch bei solchen Gelegenheiten offenbar nicht sehr verständlich auszudrücken verstand. Dies mag an einer zeitlebens nie ganz überwundenen Sprachunbeholfenheit im Englischen gelegen haben, denn auch in seinen englisch geschriebenen Aufsätzen und Vorträgen findet man diese schwer faßbare Unbestimmtheit. Die in deutscher Sprache geschriebenen Briefe sind dagegen, wie auch schon die zitierten Beispiele zeigen, vollkommen klar, in Gedanken, wie auch in der Diktion. In deutscher Sprache hat Meyer dagegen erst sehr spät publiziert, als er schon 34 Jahre lang Deutsch nicht mehr als seine tägliche Sprache benutzt hatte (Meyer 1926). Ein Lehrbuch hat Meyer ebenfalls nicht verfaßt. Lief (I 948) kommen gewisse Verdienste zu, indem er 52 von AdolJMeyers verstreut erschienenen Arbeiten in einem Band vereinigt und mit einigen biographischen Notizen und

Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages.

334

Ado/fMeyer und die Beziehungen zwischen deutscher und amerikanischer Psychiatrie

Meyers Lehre und Kritik Man hat die Meyersche Denkweise als die amerikanische einer Kraepelinschen als der europäischen gegenübergestellt. Erst im Lichte von DSM III (1980) muß diese Auffassung relativiert werden. Meyer hat zwar häufig seiner Abneigung gegen das für zu kompliziert gehaltene diagnostische System Kraepelins zum Ausdruck gebracht, aber sein eigener Beitrag zur Psychiatrie ist stärker durch europäisches Denken beeinflußt, als ihm selbst wohl deutlich war. Als wichtigsten Beitrag Meyers hat man die Betonung des kulturellen Einflusses auf die psychische Krankheit bezeichnet. Mit "Kultur" ist hier allerdings die gesamte den Menschen umgebende soziale und dingliche Umwelt gemeint, nicht dagegen deren historische Dimension. Insoweit besteht tatsächlich ein Gegensatz zum sog. medizinischen Modell der Geisteskrankheit. Diese ist für Meyer nicht genetisch oder sonstwie in ihrem Ablauf festgelegt, sondern vollzieht sich in der lebendigen Auseinandersetzung des ganzheitlichen biologisch-psychischen Menschen mit seiner Umgebung. In einem scheinbaren Widerspruch zu seiner Ablehnung Kraepelins steht, daß Meyer erstmalig für die amerikanische Psychiatrie die Arbeit Kraepelins und anderer deutscher Autoren ausführlich dargestellt hat und sie allerdings dabei einer gründlichen Revision und Kritik unterzog. Er veranlaßte den ihm nahestehenden ungarisch-amerikanischen Psychiater A. A. BrilI, bekannt als Freud-Übersetzer, dazu, Kraepelin ins Amerikanische zu übersetzen. 1902 erschien eine erste Übersetzung von Ausschnitten aus Kraepelins Werk (ausführlichere englische Übersetzungen folgten freilich erst 1919 und 1921). Meyer (1904) verglich die bis dahin erschienenen 7 Auflagen des psychiatrischen Lehrbuchs von Kraepelin und ging ausführlich auf die Auffassungen von Nissl, Wernikke und vor allen Ziehen ein, die damals führenden Größen in Deutschland. In Gegenüberstellung und somit in kontradiktorischer Abhängigkeit formulierte Meyer dann seine eigenen Thesen. An Nissl kritisierte Meyer das, was den Kern der eigentlich erst später etablierten Heidelberger Schule ausmachte. Nissl, der wie Meyer Neuroanatom war, hatte behauptet, daß man bei fast jedem Fall von funktioneller Psychose pathologisch-anatomische Veränderungen am Gehirn nachweisen könne und nur solche könnten Grundlage einer Nosologie sein. Meyer stellte die Frage, wozu wohl ein solcher anatomischer Dogmatismus dienen könne. Wenn man nämlich die Fakten betrachte, werde hinreichend deutlich, daß die Anatomie bislang solche Grundlagen nicht geliefert habe. An Kraepelin kritisierte Meyer weiter die zentrale, in der 5. Auflage des Lehrbuchs eingeführte Krankheitsidee, daß er nämlich die Psychopathologie nach dem Vorbild

335

der Progressiven Paralyse forme. Die Progressive Paralyse, die ein Jahrhundert zuvor als eine einfache Komplikation der Psychosen gegolten habe, sei nunmehr in den Rang eines Paradigmas aufgestiegen, als wenn sie die am besten ausgebildete Form einer psychischen Krankheit sei. Darüber hinaus würden bei Kraepelin Symptome nur anerkannt, soweit sie für die von ihm postulierte Ätiologie, Verlauf und Prognose von Bedeutung seien. Alle anderen Erscheinungen psychischer Krankheit lasse Kraepelin außer acht. Gemeint sind insbesondere die Beziehungen des Kranken zu seiner mitmenschlichen Umgebung. Meyer wendet sich auch später noch gegen die "voreilige Annahme der Paralyse als das ausschließliche Paradigma der Psychiatrie, einer Annahme, die Stanley Hall mit geistreichem Witz damit kritisierte, daß bei Anerkennung der Formel ,Ursache, Verlauf und Endzustand' der Ausdruck ,allgemeine Paralyse' durch den Ausdruck ,thanatische (oder tödliche) Demenz' ersetzt werden sollte" (Meyer 1926). Nicht einmal bei der Progressiven Paralyse will Meyer die Selbstherrlichkeit der Psychose gelten lassen, sondern sagt: "Das Schicksal eines solchen Falles hängt einerseits von der Art der Spirochäten und ihrem Verhalten und andererseits von der Reaktion des Organismus und der Persönlichkeit ab. Die verschiedenen psychischen Zustandsbilder sind verschiedene Art und Weisen, in denen die Persönlichkeit auf den Zerrüttungsprozeß reagiert..." (Meyer 1926). Diese Kritik am Paralyse-Modell ist in der amerikanischen Psychiatrie bis in die jüngste Vergangenheit beibehalten worden und bildet den Kern der umfangreichen Kritik an der klassischen Psychiatrie sowohl bei Thomas Szasz (1961) wie bei SiegIer und Osmond (1974).

An Ziehen kritisierte Meyer schließlich, daß er seine Klassifikation an den großen Begriffen der Normalpsychologie (Affekte = affektive Psychosen; Intelligenz = Psychosen ohne Intelligenzdefekt, z. B. Paranoia, Stupidität; Defektpsychosen, z. B. Idiotie, Dementia paralytica; zusammengesetzte Psychosen) orientiere. Zugleich machte er Ziehen, weil dieser auf dem bedeutendsten deutschen Lehrstuhl für Psychiatrie (in Berlin) sitze, für die allgemeine und von ihm für falsch gehaltene Annahme des Kraepelinschen Systems verantwortlich. Während sich Meyer mit seinen eigenen Vorstellungen gegen einen so gezeichneten Hintergrund absetzte, machte er ihn zugleich (das meiste war unübersetzt) einer englisch sprechenden Öffentlichkeit bekannt. In seiner eigenen Lehre übertrug er zunächst die biologischen Theorien Hugling Jacksons auf die Psychologie. Er meinte, jedes Individuum habe eine beschränkte Anzahl von Reaktionsweisen (reaction types) zur Verfügung, um sich an die jeweils gegebenen Umstände anzupassen. Die angemessenste Reaktion sei daher die der befriedigenden Anpassung (final adjustment). Darwin hatte bereits die Entwicklung der Tierspezies mit der Notwendigkeit der Anpassung an sich verändernde Lebensbedingungen gesehen. Meyer nahm somit von Jacks(m nicht die später im Neo-Jacksonismus so wichtigen Ebenen der Reaktion auf, sondern die Idee der komplexen Reaktion sowie die Idee einer begrenzten Anzahl von Reaktionsmustern. Solche Reaktionen, z. B. Nervenzusammenbrüche, hysterische Anfälle, Verdrängungen, können nach Meyer über ihr biologisch sinnvolles Ziel hinausschießen und in sich unkontrollierbar und schädlich werden. Derartige pathologische Reaktionstypen

Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages.

Kommentaren versehen hat. Lief ist dabei leider nicht sehr wissenschaftlich vorgegangen und hat fast alle Texte gekürzt, ohne im einzelnen die Kürzungen kenntlich zu machen. Meyers Werke sind, soweit ich sehen kann, niemals ins Deutsche übersetzt worden, so daß Meyers Gedankenwelt bis in die Gegenwart schwer faßbar geblieben ist, obwohl Mitarbeiter und Schüler sich bemüht haben, sein Gedankengebäude darzustellen (Ebaugh, Flournoy, Lidz u. a.). Wir können diesen grundsätzlichen Mangel an dieser Stelle leider nicht ausgleichen, sondern nur ein paar Gedanken aufzeigen, die für das gestellte Thema von Bedeutung sind.

Fortsehr. Neuro!. Psychiat. 58 (1990)

Fortschr. Neuro!. Psychiat. 58 (1990)

sind z. B. im Bereich der Dementia praecox hypochondrische Reaktionen, Wahn, Mißtrauen, ängstliche und halluzinatorische Episoden, exzentrisches Verhalten u. ä. Ähnliches findet sich bei der Psychasthenie Janets, der Hysterie und sogar in der religiösen Exstase. Selbst bei dieser knappen Aufzählung wird erkennbar, wie Meyer damit das Kraepelinsche nosologische System relativiert und zugleich ein neues Schema begründet, das für die amerikanische Psychiatrie bis einschließlich zur DSM ]] bestimmend wird, obwohl sie Meyer nicht bis in seine Begriffiichkeit gefolgt ist, der er selbst allerdings ebenfalls keine große Bedeutung beigemessen hat. Diese "verhaltens(!)psychologische" Terminologie (a behavioristic and uniform terminology)" braucht hier nur aus einer späteren Zusammenfassung Meyers angeführt zu werden. Grundbegriff ist die "Ergasie oder Betätigung". Unterbegriffe sind "merergastisch (Teilpsychosen oder Psychoneurosen angehörig), thymergastisch (affektiv), parergastisch und paranoid (auf Schizophrenie- und Paranoia-Gruppe hindeutend), dysergastisch (Reaktionen auf toxischem und ähnlichem Boden), anergastisch (mit erworbenem Defekt), oligergastisch (mit angeborenem oder frühem Defekt" (Meyer 1926). Alles das aber sind Reaktionsmuster (mental reaction-types, die Meyer selbst als "psychiatrische Reaktionstypen" ins Deutsche übersetzt) und nicht etwa Krankheitseinheiten. Eine solche Psychiatrie sollte dann Ergasiatrie heißen und die ganze Lehre Ergasiologie. Solche Begriffe fristen heute allerdings nur noch in geläufigen Wörterbüchern ein fernes Dasein. Meyer wendet sich aber auch gegen ein anderes Grundprinzip Kraepelins, welches die Zuordnung eines Krankheitsbildes nach günstigem und ungünstigem Ausgang zu den beiden großen Gruppen erlaubt. Jeder Irrenarzt kenne zwar Fälle, die von Anfang an eine schlechte Prognose hätten, es gebe jedoch kein sicheres Zeichen für einen ungünstigen Verlauf und alle solche diagnostischen Spielereien lenkten nur von den psychiatrischen Grundaufgaben ab. Diese bestehen nach Meyer darin, die dynamischen und beeinflußbaren Faktoren, die Lebensumstände, welche gerade zu dieser Reaktionsform geführt haben, aufzuklären.

Auch hier wird erkennbar, wie sehr sich solche Vorstellungen auf die therapeutische Haltung auswirken können. Während Nissls morphologischer Ursachendogmatismus zusammen mit der Vorstellung eines "natürlichen" guten und schlechten Verlaufs psychischer Krankheiten zu einem "therapeutischen Nihilismus" führten, forderte Meyers Theorie zu einer intensiven Beschäftigung mit dem einzelnen Kranken, seiner Biographie, seinen Lebensereignissen und zu einem therapeutischen Aktivismus heraus. Man war lange Zeit geneigt, darin einen Unterschied zwischen dem "europäischen" intellektuellen Skeptizismus einerseits und dem "amerikanischen" Optimismus andererseits zu sehen, bis DSM III (1980) einen vollständigen Bruch mit der Meyerschen Tradition herbeiführte und nunmehr die amerikanische Psychiatrie ihrerseits auf einer theoretischen biologischen Grundlage eine komplizierte und dogmatische Nosologie mit insgesamt etwa 250 verschiedenen psychiatrischen Krankheitsbildern entwikkelte. Meyer ließ nicht nur von seinen Patienten, sondern auch von seinen Studenten besondere Biographien, die

U. H. Petcrs /(fe charts, aufzeichnen. Wenn es wahr ist, daß der Mensch als eine psychisch-biologische Einheit im Laufe seines Lebens bestimmte Reaktionsmuster auf die Lebensereignisse entwikkelt, dann ist die Kenntnis dieser Muster für die Therapie von ausschlaggebender Bedeutung. Für die Schizophrenie bedeutet dies z. B., daß der Mensch in seinem Kampfum Anpassung an innere und äußere Streßfaktoren als Abwehr Autismus, Abkehr von der Realität sowie Wahn und Halluzinationen entwickeln kann. Es wäre demnach verkehrt, einfach von einer Schizophrenie zu sprechen, weil das eine nosologische Einheit bezeichnet und das Wesentliche verdeckt. Vielmehr ist die schizophrene Reaktion das Wesentliche. In dieser Frage ist die amerikanische Psychiatrie für einige Jahrzehnte vollständig Meyer gefolgt. DSM I (1952) und DSM II (1968), die: bezeichnenderweise nie ins Deutsche übersetzt wurden, kennen daher nur eine "schizophrene Reaktion". Aus der Meyerschen Haltung erwuchs der amerikanischen Psychiatrie überhaupt eine Geringschätzung der psychiatrischen Nosologie. Es kam nicht so sehr darauf an, welche Diagnose sich stellen ließ, sondern vielmehr darauf, welche Mittel der Mensch zur Verfügung hat, um sich den ihm gegebenen Lebensbedingungen anzupassen.

Eine eingehende Beschäftigung mit der besonderen Wesensart eines Patienten, dessen besonderen Lebensbedingungen und Reaktionsweisen war die logische Konsequenz einer solchen Sichtweise. Dies brachte Meycr auch dahin, die Psychohygiene (das Wort hat er geprägt) und die Psychoanalyse zu fördern, weil er sich den in diesen beiden Bewegungen entwickelten Vorstellungen näher fühlte als den Kraepelinschen. Die Psychoanalytiker haben dies verständlicherweise anfänglich begrüßt, ihn aber schließlich doch nur als einen Wegbereiter und Vorläufer Freuds betrachtet und schließlich kaum noch beachtet, weil er keineswegs zum vorbehaltlosen Anhänger Freuds wurde. "Die Beziehung zu Frcud beschränkt sich auf das allgemeine Interesse an einer Systembildung von relativem Wert, die den Instinkt (Amerikanismus, gemeint sind offensichtlich die Triebe 1zur Hauptsache macht und desgleichen Begriffe und Typen menschlicher Probleme, wie man sie z. B. im Konflikt zwischen der Last der Tradition und den Forderungen und dem Drängen des Instinktes kennt" (Meyer 1926). Nicht-Übereinstimmung mit Freud besteht aber in vielen anderen Fragen: die Natur der Triebe, das Unbewußte, die von Meyer kritisierte "verfrühte Verwendung zur Propaganda", die endlosen Deutungen, die Neigung, immer nach etwas anderem zu fahnden als was man vorfindet, das Mißtrauen gegenüber Tatsachen, die Neigung zu Begriffsneuschöpfungen, zu dogmatischen Musterformen und die Übersystematisierung. In Wirklichkeit war Meycr schon deshalb kein Vorläufer Freuds, weil er 10 Jahre nach Frcud geboren ist und ihn um II Jahre überlebt hat und seine eigenen theoretischen Vorstellungen zur Psychiatrie etwa um die gleiche Zeit entwickelte wie Freud die seinen. Meyer hat offensichtlich darunter gelitten, daß er von der deutschen Psychiatrie fast überhaupt nicht beachtet wurde und daß selbst noch die seltene Erwähnung seiner Arbeit gewöhnlich kritisch geschah und aus Verzerrungen und Mißverständnissen bestand. Eine Gelegenheit zu einer ausführlichen Darstellung in deutscher Sprache bot sich ihm in der Festschrift zu Kraepelins 70. Geburtstag (15.2.1926). In dieser Arbeit, aus der wir hier verschiedentlich zitiert haben, stellt Meyer seine ganze eigene Lehre dar, verweist auf die je-

Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages.

336

AdolfMeyer unddie Beziehungen zwischen deutscher und arnerikanischer Psychiatrie

Die allgemeine Atmosphäre war für eine pragmatische Einstellung günstig, da ja eigentlich Amerika die Geburtsstätte eines ausgesprochenen Pragmatismus ist. Chartes S. Peirce, Stantey Hall. William lames. die Lehren von lohn Dewey u. a. beeinflußten manchen Forscher. Die Notwendigkeit einer toleranten Haltung, wenn nicht sogar ein eigentliches Mitarbeiten in der Spaltung in viele religiöse Sekten, der Mangel einer dominierenden philosophischen Systembildung [der Ton liegt hier offensichtlich auf Systembildung, eine dominierende Philosophie hat er ja gerade genannt, U. H. P.), der Aufschwung der Biologie und der große Eifer für alles Neue aufgrund eines sichtlich gepflegten Selbstvertrauens als das Kriterium einer gesunden amerikanischen Geisteshaltung, dies alles waren wichtige Ansätze im Vergleich zur starren, autoritären Schulung der organisierten Wissenschaft in Europa (Meyer 1926).

Charles S. Peirce. Stanley Hall, Jarnes und Dewey sind die wichtigsten Philosophen des Pragmatismus. Nach dieser Lehre wird im Handeln das Wesen des Menschen ausgedrückt und auch sein Denken muß darauf geprüft werden, ob und wie weit es sich in Handeln umsetzen läßt. Meyer meint, daß Amerika für seine Lehre besonders aufnahmefähig gewesen ist, weil die pragmatischen Philosophen den Weg dafür bereitet haben. Der deutsche Wissenschaftsbetrieb (französische Quellen werden nicht genannt) habe sich dagegen zuerst auf rein theoretische Systeme eingestellt (Kritik an der idealistischen Philosophie, der Meyer eigentlich näher steht), sei dann dem Materialismus der Hirnanatomen gefolgt. Am jungen Kraepelin findet Meyer Gutes, aber eigentlich vor allem die Übertragung der Wundtschen experimentellen Psychologie, die Kraepelin bei Wundt selbst gelernt hatte, auf die Psychopathologie. Dies findet Meyer hauptsächlich in den psychologischen Arbeiten Kraepelins und in den ersten vier Auflagen des psychiatrischen Lehrbuchs. Die Herausarbeitung der Kraepelinschen Arbeitskurven und die Untersuchung der Einwirkung bestimmter Substanzen darauf ist jedoch kritikwürdig. Am meisten Kritik ist aber eben am nosologischen Dogmatismus zu üben, der in der Psychiatrie erst zu einem Zeitpunkt eingeführt werde, zu dem die anderen Wissenschaften schon damit aufgehört haben. Dagegen setzt Meyer seine eigene psycho-dynamische Lehre, die er auch so nennt. Sie hat einen Teil ihrer Wurzeln im deutschen Idealismus mit der ihn völlig beherrschenden Beschäftigung mit Mesmerismus (Hypnose) und Somnambulismus (nach Meyer: Hysterie): Erst die Erfahrung mit dem Ungewöhnlichen, mit der Hypnose und mit der Hysterie, schien eine Gelegenheit zu bieten, eine dynamische AuffassunK der PSl'che zu verteidigen, die ja der gesun-

337

de Menschenverstand nie aufgegeben hat, die aber aus der Wissenschaft und namentlich auch aus der Pathologie [vorher erklärt als "systematische Erfahrung mit dem Leiden und Kranksein" ] ferngehalten wurde wegen der vielen Umgestaltungen von Traditionen, welche ihre Anerkennung erforderlich gemacht hätte (Meyer 1926; meine Hervorhebung).

Pragmatisch ist die Lehre Meyers insofern, als in jedem Einzelfall aus den Gegebenheiten des Charakters des Kranken, dem Herkommen, der Familie, der früher entwikkelten Fähigkeiten zum Coping, aus den Qualitäten seines Organismus und aus den krankhaften Veränderungen ein Fazit gezogen wird, das zu pragmatischem Handeln Veranlassung gibt und den europäischen therapeutischen Nihilismus seiner Zeit völlig vermeidet (Meyer 1926); "Die Frage wird immer so gestellt: WeIches sind die bestimmenden Faktoren und weIches sind die Angriffspunkte, um Modifikationen und Korrekturen vorzunehmen?" Idealistisch ist die dadurch entstehende Betonung des Einzelschicksals. Denn es ist klar, daß die gleichzeitige Berücksichtigung aller vorstehend genannten Faktoren sowie noch weiterer bei der Entstehung (i. e. nach Meyer Genetik) eines konkreten Krankheitszustandes zu einer HeraussteIlung des Einzelfalles ohne Parallelen führt. Auch insoweit zeigt sich Meyer dem amerikanischen pragmatisch-toleranten Geist gegenüber als dankbar. Mir persönlich gestattete eine solche Atmosphäre auf einer psychodynamischen wie auch auf einer allgemeinen dynamisch-genetischen Auffassung von Universum und Mensch zu beharren (Meyer 1926).

Schlußbemerkung

Schließlich weist Meyer darauf hin, daß sogar er es war, der Kraepelins Diagnostik als erster in Amerika praktisch anwendete, aber zugleich psycho-dynamisch abmilderte. Ich war wohl der erste, der Kraepelins nosologische Begriffe in die praktische Arbeit eines amerikanischen Spitales einführte, allerdings mit Einschränkungen, welche die dogmatische Annahme "ein Patient, eine Krankheit" und die ausschließliche Spezifität der Krankheitseinheiten milderte und welche den Weg für "autopsychische" wie exogene Faktoren sowie im allgemeinen eine dynamisch-genetische Formulierung offen ließ (Meyer 1926).

Diese Behauptung ist offensichtlich zutreffend. Es handelt sich um insgesamt 8.172 Erstaufnahmen, die kürzlich von Stephens et al. (1986) anhand der noch vorhandenen Aufzeichnungen kontrolliert wurden. Dabei wurden folgende Diagnosegruppen festgestellt: Schizophrenie (17 %), paranoide Zustandsbilder (3%), manisch-depressive Psychosen (7%), Depressionen (27%), organisch-psychische Krankheiten (20'%), Neurosen (15'%), Abhängigkeit (6%), Psychopathien (5 '%). Wie weit dabei die dynamischen Gesichtspunkte zum Tragen kamen, soll noch veröffentlicht werden. Es ist nicht bekannt, daß Kraepelin Meyer für die Verbreitung seiner Lehre in Amerika Dankbarkeit gezollt hat. Soweit wir sehen, hat Meyer auch mit seinem ausführlichen Bemühen, sich dem deutschen psychiatrischen Publikum verständlich zu machen keinen Erfolg mehr gehabt. Kraepelin ist im Jahre des Erscheinens des genannten Aufsatzes gestorben, so daß ihm keine Zeit mehr zum Reagieren blieb. Statt seiner antwortete Kraepelins früherer Mitarbeiter Eugen Kahn

Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages.

weiligen Quellen zu den erwähnten Problemen, nennt die jeweiligen philosophischen Voraussetzungen und wiederholt mehrfach und ausdrücklich seine Kritik an Kraepelin, also ein echter wissenschaftlicher Jubiläumsbeitrag. Dabei erweist sich Meyer als ein intimer Kenner nicht nur der deutschen psychiatrischen Literatur, sondern auch der inneren Vorgänge innerhalb der Psychiatrie, z. B. der Beweggründe für bestimmte Lehrstuhlbesetzungen. Der eigentliche Gedankengang erschließt sich allerdings auch in diesem deutsch abgefaßten Text etwas schwer. Meyer erwähnt zuerst ausführlich die philosophischen Grundlagen der deutschen wie auch der amerikanischen Psychiatrie. Die letztere führt er in ihren Besonderheiten auf die Lehren der philosophischen Schule des Pragmatismus zurück.

Fortsehr. Neuro!. Psychiat. 58 (1990)

U. H. Peters

Fortsehr. Neurol. Psychiat. 58 (1990)

(1926) mit einem lakonischen, jedoch gleichwohl falschen und verständnislosen Referat, das wir ungekürzt wiedergeben: Ausführliche Auseinandersetzung im Sinne dessen, was wir nach Birnbaum Strukturanalyse nennen. Da Verf. seine eigene Nomenklatur hat, ist es nicht immer leicht, ihm zu folgen (Kahn 1926).

Aus der gegenwärtigen Sicht ist vielleicht bemerkenswert, daß Meyer erstmalig auf amerikanischem Boden eine eigene, von der Psychoanalyse völlig unabhängige dynamische Psychiatrie entwickelt hat und daß er diese trotz aller Kritik mit der Kraepelinschen Systematik in Einklang zu bringen verstand, woran sich, wie Sabshin gezeigt hat, in einer Zeit nach DSM IV oder vielleicht jetzt schon wieder anknüpfen läßt. Literatur Bleuler, M.: Early Swiss Sources of Adolf Meyer's Concepts. Amer. J. Psychiatry 119(1962) 193-196 Campbell, C. M.: Adolf Meyer. Archives Neurol. Psychiatr. 37 (1937) 715-731 Dierhelm, 0.: Adolf Meyer: In: Kolle, K. (Hrsg.): Große Nervenärzte. Bd. 2.G. Thieme,Stuttgart(1959) 129-138 Dreyer, B. A.: Adolf Meyer and Mental Hygiene: an Ideal for Public Health. Am. J. Public Health66(1976)998-1003 Ebaugh, R. G.: Adolf Meyer: A Tribute from Horne. Amer. J. Psychiatry 123(1966)334-336 Ebaugh, R. G.: Adolf Meyer: The Teacher. Archives Neurol. Psychiatr. 37(1937)732-741 Flournoy, H: L'enseignement psychiatrique d' Adolf Meyer. Archives de Psychologie 20 ( 1926) 81 - 151 Forel, A.: Briefe. Correspondance 1864-1927. Hrsg. v. Hans H Walsero Huber, Bern und Stuttgart 1968 Grob, G. N.: Adolf Meyer on American Psychiatry in 1895. Amer. J. PsychiatryI19(1963)1135-1142 Henderson, D.: Adolf Meyer: A Tribute from Abroad. Amer. J. Psychiatry 123 (1966) 332- 334 Kahn, E.: Besprechung von Adolf Meyers Aufsatz "Genetisch-dynamische Psychologie versus Nosologie". Zbl. Neurol. Psychiatr. 43 (1926) 770 Kraepe/in, E.: Clinical Psychiatry: a Textbook. Macmillan, New York 1902 Kraepe/in, E.: Dementia praecox and Paraphrenia. Translated by R. Mary Barclay, M. A., M. B. from the 8. German Edition of the "Text-Book ofPsychiatry" vols. III, and IV. Edited by George M. Robertson, M. 0., F. R. C. P. (Edin.). Livingstone: Edinburgh 1919. Reprint with historical Introduction: Robert E. Krieger: Huntington, New York 1971. Reprint: Ayer: Salem, New Hampshire 1987 Kraepe/in, E.: Psychiatrie. Ein kurzes Lehrbuch für Studierende und Aerzte. Ambr. Abe1 (Arthur Meiner), Leipzig 1893 Kraepe/in, E.: Psychiatrie. Ein kurzes Lehrbuch für Studierende und Aerzte. 2. Aufl. Ambr. Abel, Leipzig 1889 Leys, R.: Meyer's Dealings with (Ernest) Jones: a Chapter in the History of the American Response to Psychoanalysis. J. Hist. Behav. Sciences 17(1981 )445-465 Leys, R.: Meyer, Jung and the Limits of Association. Bull. Hist. Med. 59( 1985) 345 - 360 Lidz, Th.: AdolfMeyer and the Deve10pment of American Psychiatry. Amer.J. Psychiat. 123( 1966)320-332

Lidz, Th.: Adolf Meyer. International Encyclopedia of the Sodal Sciences. Macmillan, N ew York (1968) 263 - 265 Lidz, Th.: Adolf Meyer. Psychobiologie et psychiatrie dynamique. Confrontations Psychiatriques 11 (1973) 163-181 Lief, A.: The Commonsense Psychiatry of Dr. Adolf Meyer. Fiftytwo Se1ected Papers. Edited, with Biographical Narrative by Alfred Lief. McGraw-HiIl, New York, Toronto, London 1948 Meyer, A.: A Few Trends in Modern Psychiatry. Psychol. Bull. (1904) 217-240 Meyer. A.: A Short Sketch of the Problems of Psychiatry. Amer. J. Insanity 53 (1897) 538 Meyer, A.: Book Review. Buchbesprechung zur 5. Auflage des Lehrbuchs der Psychiatrie von Emil Kraepelin. Amer. Journ. of Insanity 53 (1896) 298 - 302 Meyer, A.: Genetisch-dynamische Psychologie versus Nosologie. Zschr. ges. Neurol. Psychiatr. 101 (1926)406-427 Mindham, R. H: My Father Knew Adolf Meyer. The Currency of Meyer's Ideas in British Psychiatry. Brit. J. Psychiatry 144 (1984) 323-325 Nei//, J. R.: Adolf Meyer and American Psychiatry Today. Amer. J. Psychiatry 137(1980)460-464 Pelers, U. H: Geschichte der Romantischen Psychiatrie. In: Freedman. A. M., H I. Kaplan, B. J. Sadock und V. H Perers (Hrsg.): Psychiatrie in Praxis und Klinik. Band 5 - Psychiatrische Probleme der Gegenwart I. Georg Thieme Verlag Stuttgart· New York (1989)99-115 Roofe, P. G.: Neurology Comes of Age: The Herrick-Meyer Scientific Papers. Initiation of a More Rational Approach to Neurology and Psychobiology. Perspect. Biolog. Med. 26 (1983) 378- 387 Sabshin, M.: Wendepunkte in der amerikanischen Psychiatrie des 20. Jahrhunderts. Fortschr. Neurol. Psychiatr. 58 (1990) 323- 331 Siegier, M., and H Osmond: Models of Madness. Models of Medieine. Macmillan New York, Collier Macmillan. London 1974 Srephens. J. H, K. Y. Ora. W W More, J. W Shaffer. and L. Covi: Inpatient Diagnoses during Adolf Meyer's Tenure as Director of the Henry Phipps Psychiatric Clinic, 1913-1940. J. Nerv. Ment. Dis. 174(1986)747-753 Szasz, Th.: The Myth of Mental IIIness. Foundations of a Theory of Personal Conduct. Harper and Row: N ew York 1961. Dt.: Geisteskrankheit - ein moderner Mythos? Grundzüge einer Theorie des persönlichen Verhaltens. Walter-Verlag. Olten und Freiburg/ Br. 1972 Walser, H H: A la memoire d'AdolfMeyer, eminent psychiatre americain (1886-1930). Med. et Hyg. (Geneve)24( 1966) 848 Walser, H H: Die wissenschaftlichen Anfange von Adolf Meyer (1866-1950) und die Entstehung der "Züricher psychiatrischen Schule". Gesnerus 23 (1966) 202 - 210 Wang, R. P.: AdolfMeyer and Psychobiology. Amer. J. Psychiatry 130 (1973) 824 Winters, E. E.: Adolf Meyer and Clifford Beers. Bull. Hist. Med. 43 (1969)414-443 Winters. E. E.: Adolf Meyer's Two and a Half Years at Kankakee. Bull. Hist. Med.40(l966)441-458 Ziehen, Th.: Physiologische Psychologie der Gefühle und A1Tekte. Vogel, Leipzig 1903 Ziehen. Th.: Psychiatrie für Ärzte und Studierende. S. Hirzel, Leipzig 1894.2. Aufl. 1902

Vniv.-Prof Dr. met!. V. H Peters

Geschäftsführender Direktor Klinik und Poliklinik für Neurologie und Psychiatrie der Universität zu Köln Joseph-Stelzmann-Str. 9 D-5000Köln41

Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages.

338

[Adolf Meyer and relations between German and American psychiatry].

German psychiatrists do not have an easy access to Adolf Meyer. The reasons include: his influence on American psychiatry was mainly exercised by his ...
596KB Sizes 0 Downloads 0 Views