230 Originalarbeit

ICF-Assessment in der psychiatrischen Rehabilitation – Begründung einer eigenständigen Rehabilitationsdiagnostik

Autor

S. Queri

Institut

Hochschule für Angewandte Wissenschaften Ravensburg-Weingarten

Schlüsselwörter ▶ Rehabilitationsdiagnostik ● ▶ ICF-Beeinträchtigungstypen ●

Zusammenfassung1

Abstract

Ziel der Studie: Die Analyse versucht, die Sinnhaftigkeit einer eigenständigen Rehabilitationsdiagnostik nach ICF neben der Störungsdiagnostik nach ICD-10 aufzuzeigen. Methodik: Eine quantitative Sekundärdatenanalyse eines Core Sets (ICF-Itemauswahl) für psychiatrische Rehabilitation wurde vorgenommen (n = 77): Gibt es eigenständige, von der ICD10-Diagnose Schizophrenie, affektive Störung oder Persönlichkeitsstörung unabhängige ICFBeeinträchtigungstypen (explorative Faktorenanalyse) und gibt es eine systematische Zuordnung von Rehabilitationsinterventionen zu diesen Typen (Mittelwertvergleiche)? Dazu wurde das Core Set mit der ICD-10-Diagnose sowie mit den quantifizierten Interventionen gemäß dem Katalog therapeutischer Leistungen (KtL) der Deutschen Rentenversicherung verglichen. Ergebnisse: Es lassen sich 3 unabhängige ICFTypen differenzieren: kognitiver, psychomotorischer und emotionaler Typ. Die Zuordnung therapeutischer Interventionen erfolgt nicht systematisch nach Beeinträchtigungstyp. Schlussfolgerung: Eigenständige Rehabilitationsdiagnostik ist wissenschaftlich mit diskriminanter Konstruktvalidität in Bezug auf die ICD10 begründbar. Eine systematische Interventionszuordnung auf Basis der tatsächlichen Funktionsbeeinträchtigung lässt eine Effizienzsteigerung vermuten.

Purpose: Assessment in the field of rehabilitation tries to establish the impairment of the functional health on basis of an existent ICD disease. Regarding the same disease there can be very different states of functional health. Within the interdisciplinary rehabilitation field the ICF is supposed to be an appropriate format to function as a common assessment tool. Methodology: A rehabilitation center had gathered data (n = 77) with an ICF core set for psychiatric rehabilitation that was analyzed with quantitative methods (secondary data analysis). The logic of data evaluation was as follows: are there autonomous types (factor analysis) of impairment concerning the ICF concepts and is there a systematically intervention allocation according to these types (comparison of means)? For this purpose the quantitative assessed ICF item selection was compared to the ICD-10 diagnosis schizophrenia, affective disorder or personality disorder as well as with the quantified interventions as listed from the annuity insurance. Results: The core set shows discriminant construct validity concerning ICD-10 diagnoses. Factor analysis identified 3 types of impairment of functional health independent of ICD-10 diseases: cognitive, psychomotoric and emotional type. The allocation of therapeutic interventions happens not yet systematically according to the impairment type. Conclusions: An autonomous rehabilitation assessment beyond the ICD-10 diagnosis is scientifically verified. Furthermore research is necessary which interventions are indicated for the several ICF impairment types what should lead to an increased efficiency.

Key words ▶ rehabilitation assessment ● ▶ ICF impairment types ●

Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1375638 Rehabilitation 2014; 53: 230–236 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 0034-3536 Korrespondenzadresse Prof. Dr. Silvia Queri Hochschule für Angewandte Wissenschaften Ravensburg-Weingarten Postfach 1261 88241 Weingarten [email protected]



1

Aus Gründen der Lesbarkeit wurde im Text ausschließlich die männliche Form verwendet.

Queri S. ICF-Assessment in der psychiatrischen … Rehabilitation 2014; 53: 230–236



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ICF Assessment in the Field of Psychiatric Rehabilitation – A Rationale for a Stand-alone Rehabilitation Assessment

Einleitung



Im Versorgungssegment Rehabilitation ist die Teilhabe bzw. Partizipation2 behinderter Menschen das zentrale Zielkriterium zur Beurteilung einer Intervention. Partizipation in der Sprache der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF, [1]) meint die Daseinsentfaltung im Sinne von Einbezogensein in zentrale Lebenssituationen (Domänen in der ICF) wie soziale Beziehungen, Selbstversorgung oder staatsbürgerliches Leben. Das bedeutet, eine ausschließliche Rehabilitation im Sinne einer Wiederherstellung von angemessener Gesundheit ist nicht ausreichend, wenn nicht gleichzeitig die – seit dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX, §§ 1, 55) darüber hinaus selbstbestimmte – Partizipation gewährleistet ist. Umgekehrt ist auch zu Maßnahmebeginn nicht die gesundheitliche Beeinträchtigung nach der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10, [2]) ausschlaggebend, sondern deren Konsequenzen in Bezug auf Teilhabe bestimmen die Rehabilitationsindikation. Menschen mit gleicher Erkrankung können sehr unterschiedlich in ihrer Teilhabe beeinträchtigt sein. Die Feststellung der aktuellen Teilhabebeeinträchtigung ist also nicht nur Ziel, sondern auch Ausgangspunkt von Rehabilitation, also für Evaluation/Maßnahmebewertung und Diagnose/Rehabilitationszugang relevant. Die Feststellung der Teilhabebeeinträchtigung wird nachfolgend als Rehabilitationsdiagnostik bezeichnet in Abgrenzung zur Krankheitsdiagnostik nach ICD-10. Partizipation lässt sich allerdings nicht einfach messen, wie bspw. der Blutdruck. Mit der Einführung der ICF jedoch, mit der sich die funktionale Gesundheit bzw. das Vorliegen einer Behinderung als Folge einer bestehenden Erkrankung beschreiben lässt, bietet sich die Möglichkeit, ein standardisiertes Assessmentinstrument zu entwickeln. Denn in der Terminologie der ICF wird die funktionale Gesundheit bzw. Behinderung anhand von Beeinträchtigungen in den Körperstrukturen/Körperfunktionen, Aktivitäten und der Partizipation (Komponenten in der ICF) abgebildet. Angewandt auf den Rehabilitationsbereich spricht man [3] dabei von einem Top-DownProzess, indem Beeinträchtigungen in den Körperstrukturen/ Körperfunktionen und den Aktivitäten im Bereich Rehabilitation insbesondere dann relevant sind, wenn sie für die Teilhabebeeinträchtigung von Bedeutung sind (und umgekehrt gehören diese dann auch zur Rehabilitationsdiagnostik). Aus diesen Komponenten lässt sich ein Assessmentinstrument konstruieren, weil jede Komponente in Domänen bzw. Kategorien unterteilt ist, denen wiederum Einzelitems auf mindestens 2 Konkretisierungsebenen zugeordnet sind. Die Funktionsfähigkeit/Behinderung eines Menschen wird im Verständnis der ICF allerdings als das Produkt der dynamischen Interaktion zwischen dem Gesundheitsproblem (ICD) und den Kontextfaktoren als weitere Komponenten aufgefasst. Kontextfaktoren einer Person sind Umweltfaktoren wie z. B. barrierefreier Wohnraum sowie stabile, krankheitsunabhängige Merkmale einer Person (personbezogene Faktoren gemäß ICF), wie bspw. das Geschlecht oder die Selbstwirksamkeitserwartung. Im Verständnis der ICF können diese Kontextfaktoren sowohl als Barrieren als auch als Förderfaktoren in Bezug auf die Funktionsfähigkeit wirken. Das biopsychosoziale Verständnis der ICF bezieht sich demzufolge nicht nur auf die vorgenommene Erweiterung, neben der physischen und psychischen auch von einer sozialen Gesundheit bzw. Funktionsfähigkeit zu sprechen, sondern dar2

Hier synonym gebraucht.

über hinaus auch in Bezug auf die Genese von Funktionsbeeinträchtigungen neben der Erkrankung an sich auch Umweltfaktoren und stabile, krankheitsunabhängige personbezogene Faktoren zu berücksichtigen. Aus diesem Blickwinkel sind auch diese Kontextfaktoren im Rahmen der Rehabilitationsdiagnostik zu erfassen. Dabei gibt es allerdings das Problem, dass die personbezogenen Faktoren von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bisher nicht klassifiziert sind. Geyh et al. [4] extrahierten in einem internationalen Literaturreview 238 Beispiele für personbezogene Faktoren und wiesen auf die Bedeutung ihrer standardisierten Einbeziehung zur Feststellung der funktionalen Gesundheit hin. Mittlerweile existiert auch ein konkreter Vorschlag für eine Klassifizierung der personbezogenen Faktoren für den deutschsprachigen Raum, initiiert von einer Arbeitsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) [5, 6]. Auch Geyh et al. [7] publizierten im Nachgang ihres Reviews einen Vorschlag zur Klassifizierung bzw. für ein Vorgehen, wie personbezogene Faktoren identifiziert und gemessen werden können. Ohne die Codierungsvorschläge zu den personbezogenen Faktoren zu berücksichtigen, umfasst die ICF bereits über 1400 alphanumerisch geordnete Items, die zur Abbildung der Funktionsfähigkeit genutzt werden können. In der Rehabilitationsdiagnostik sind neben den direkten Items der Komponente Teilhabe/Partizipation allerdings Items der anderen Komponenten nur dann von Interesse, wenn sie einen Zusammenhang mit der Teilhabe aufweisen (s. o. Top-Down-Prozess). Es wurden mittlerweile für einige Krankheiten wie bspw. Diabetes mellitus oder Depression sog. Core Sets als eingegrenzte Itemauswahl entwickelt, die zur Rehabilitationsdiagnostik eingesetzt werden können [8], da sie bereits durch einen aufwendigen Validierungsprozess (Inhaltsvalidität) in Form von weltweiten multizentrischen Studien, Experten- und Patientenbefragungen bestätigt wurden [9].

Forschungsfragen



Lässt sich die funktionale Gesundheit anhand von psychischen Störungen differenzieren? Die ICF-Beeinträchtigungen gemäß Core Set sollten für die verschiedenen Diagnosen gemäß dem klinischen Augenschein sowie in Übereinstimmung mit einschlägigen Befunden unterschiedlich sein. Das heißt, würden für alle Diagnosegruppen die gleichen ICF-Beeinträchtigungen festgestellt, entspräche das nicht der existierenden Befundlage: Bspw. sollten Schizophrene in der Regel häufiger als Folge ihrer Erkrankung im kognitiven Bereich beeinträchtigt sein [10] im Vergleich zu Patienten mit einer affektiven Erkrankung. Eine derartige Variation validiert das eingesetzte Core Set als Messinstrument der funktionalen Beeinträchtigung. Es interessiert aber weniger, welche unterschiedlichen funktionalen Beeinträchtigungen Menschen der verschiedenen Diagnosegruppen aufweisen, sondern ob sich aus den insgesamt gefundenen Beeinträchtigungen trennscharfe Typen bilden lassen, ICF-Beeinträchtigungstypen (im weiteren Text ICF-Typen).

Gibt es ICF-Typen unabhängig von der ICD-10Diagnose? Finden wir derartige Typen und sind diese unabhängig von der ICD-10-Diagnose, spricht dies für die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit einer eigenständigen Rehabilitationsdiagnostik. Eine Queri S. ICF-Assessment in der psychiatrischen … Rehabilitation 2014; 53: 230–236

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zentrale Konsequenz wäre, dass die Rehabilitationsinterventionen nicht mehr nach ICD-10-Diagnose, sondern nach ICF-Beeinträchtigungstyp zugeordnet werden. Die Einbringung dieser neuen, diversifizierteren Ebene der Rehabilitationsdiagnostik würde also Fehlallokationen von Interventionen vermeiden helfen. Auch wenn bspw. im Durchschnitt Schizophrene stärkere kognitive Beeinträchtigungen zeigen als die anderen Diagnosegruppen, tun dies aber keinesfalls alle.

Zeigt sich eine systematische Zuordnung von Rehabilitationsinterventionen zu den ICF-Typen? Welche Rolle spielen die Kontextfaktoren? Inwieweit erfolgt die Interventionsallokation der Logik der ICFBeeinträchtigung? Diese Fragestellung ist insbesondere aus gesundheitsökonomischer Perspektive von Relevanz, z. B. in Form von Kosten für nicht notwendige Therapien. Neuropsychologisches Training bspw. erzielt bei Patienten ohne kognitive Beeinträchtigungen lediglich Deckeneffekte [11]. Aus dieser Perspektive ist außerdem interessant, welche Rolle die Kontextfaktoren spielen. Wenn ein Kontextfaktor wie z. B. schlechte Verkehrsanbindung die Aufnahme einer Erwerbsarbeit verhindert, ist keine berufliche Neuqualifizierung notwendig, um Partizipation in diesem Bereich zu erreichen. Wenn sich Beeinträchtigungen der funktionalen Gesundheit als Folge der Wechselwirkung aus Störung und Umweltfaktoren nachweisen lassen, würde dies die Forderung nach einer verstärkt umweltzentrierten Vorgehensweise (Inklusion!) ergänzend zur individuumszentrierten unterstützen.

Methodik



Design, Datenquelle/Stichprobe, Instrumente, Auswertung Die retrospektive Querschnittanalyse verfolgt eine deskriptivexplorative Fragestellung in Bezug auf Typenidentifikation (ICFBeeinträchtigungen), analysiert Gruppenunterschiede (ICD-10Diagnosen bezüglich ICF-Beeinträchtigung) und Zusammenhangshypothesen (ICF-Beeinträchtigungen und Interventionen). Datengrundlage der Sekundärdatenanalyse war das Dokumentationssystem des Rehabilitationszentrums Herzogsägmühle der Diakonie Oberbayern, das von einem interdisziplinären Team (pädagogische, medizinische, psychologische, ergotherapeutische Mitarbeiter) erstellt wurde. Aus diesem wurden die Diagnosen nach ICD-10, die ICF-Beeinträchtigungen gemäß einem Core Set [12–14], die Interventionen nach KtL (Katalog therapeutischer Leistungen) der Deutschen Rentenversicherung (DRV) [15] sowie einige demografische Variablen entnommen. Das Core Set wurde lediglich im Rahmen einer Expertenbefragung (n = 44) mittels Delphi-Methode (Auswahl von Items nach Relevanz für psychiatrische Rehabilitation, Beurteilbarkeit und Verstehbarkeit des Items) entwickelt und es existieren noch keine psychometrischen Analysen. Aus ca. 450 Abschlussberichten von Patienten, die zwischen 2005 und 2010 ihre mindestens 10-monatige stationäre medizinische Rehabilitationsmaßnahme abgeschlossen hatten, wurden 100 zufällig ausgewählt. Die Maßnahme beinhaltet für die Patienten, unterschiedlich gewichtet, insbesondere Leistungen aus dem medizinischen, psychotherapeutischen, soziotherapeutischen und ergotherapeutischen Bereich. Es wurden 3 Gruppen „ICD-10-Diagnose“ gemäß ihrer Rehabilitationsrelevanz der letzten 5 Jahre in die Analyse eingeschlossen: Schizophrenie (F20, n = 46), affektive Störungen Queri S. ICF-Assessment in der psychiatrischen … Rehabilitation 2014; 53: 230–236

(F31, F32 und F33, n = 17) und Persönlichkeitsstörungen (F60, F61 sowie F21, n = 14), wobei fast alle Patienten hier eine emo▶ Tab. 1 tional-instabile Persönlichkeitsstörung aufweisen. ● zeigt die ICF-Itemauswahl des Core Sets aus den ICF-Komponenten Körperfunktionen3, Umweltfaktoren sowie Aktivitäten und Partizipation/Teilhabe, letztere anhand der einzelnen Lebensbereiche/Domänen (LB). Innerhalb der Komponente Körperfunktionen wurden Items gemäß allgemeinpsychologisch-theoretischem Verständnis inhaltlich zusammengefasst zu den Kategorien Kognitionen (27 Items), Emotionen (4 Items) und Psychomotorik/Motivation (12 Items). Zur differenzierten Auswertung von Aktivitäten und Partizipation wurden die 9 Lebensbereiche gemäß der zweiten Variante der WHO aufgeteilt: LB1-LB4 Aktivität, LB5-LB9 Partizipation, die ebenfalls jeweils mehrere Items (zwischen 3 und 17) zusammenfassen. Alle Item-Zusammenfassungen erfolgten durch die Bildung des arithmetischen Mittels. Die Items wurden anhand der von der ICF als erstes Beurteilungsmerkmal in den Kodierungsleitlinien genannten Skala (Ausmaß und Größe des Problems) quantifiziert bzw. beurteilt: 0–4 % als „Problem nicht vorhanden“, 5–24 % „Problem leicht ausgeprägt“, 25–49 % als „Problem ausgeprägt“, 50–95 % als „Problem erheblich ausgeprägt“ sowie 96–100 % als „Problem voll ausgeprägt“. Umweltfaktoren wurden differenziert nach Barriere (0 bis –4) oder Förderfaktor (0 bis + 4) beurteilt. Die KtL-Leistungen wurden zur Auswertung in thematische Bereiche zusammengefasst: Supportive Therapien (z. B. Bewegungstherapie), Medizin, Psychologie (z. B. Hirnleistungstraining), Soziotherapie (z. B. soziale Kommunikation), Schulung/ Beratung/Information (z. B. sozialrechtlich), Ergo-/Arbeitstherapie und Angehörigenarbeit. Die statistischen Analysen wurden mit dem Statistikprogramm SPSS 20 berechnet. Forschungsfrage 1. Um zu prüfen, inwieweit sich Gruppenunterschiede der 3 Diagnosen hinsichtlich der ICF-Beeinträchtigungen zeigen lassen, wurden Mittelwertvergleiche berechnet für „Mentale Funktionen“ aus der Komponente „Körperfunktionen“ (3 univariate Varianzanalysen für Kognitionen, Emotionen und Psychomotorik/Motivation mit t-Tests als Post-hocEinzelvergleiche mit Alpha-Fehler-Adjustierung). Forschungsfrage 2. Die ICF-Typenbildung erfolgte mithilfe einer explorativen Faktorenanalyse, die alle Items der Funktionsfähigkeit (erfasst mit Items aus den Komponenten „Körperfunktionen“, „Aktivitäten“ und „Partizipation“) zu 13 Variablen aggregiert umfasste. Danach erfolgte eine varianzanalytische Analyse hinsichtlich der Zuordnung der Diagnosen zu den ICF-Typen. Forschungsfrage 3. Inwieweit die ICF-Typen unterschiedliche Interventionen nach KtL zugewiesen bekommen, wurde für jeden Faktor mit t-Tests für unabhängige Stichproben getestet. Mögliche Zusammenhänge (linear) zwischen ICF-Beeinträchtigung und Umweltfaktoren wurden mittels Korrelationen geprüft. Dabei wurden die erforderlichen Bedingungen zur Durchführung der Analysen berücksichtigt (z. B. Varianzhomogenität, Normalverteilung des Merkmals in der Population bei Mittelwertvergleichen, ausreichende Interkorrelationen und signifikanter Bartlett-Test bei der Faktorenanalyse) sowie eine AlphaFehler-Adjustierung vorgenommen, wenn mehrere paarweise Vergleiche (t-Tests) gerechnet wurden. Poweranalysen wurden mit dem Programm GPower 3.0.10 berechnet. Dabei wurde eine 3

Es wurden keine Items aus dem Bereich Körperstrukturen ausgewählt für das Core Set „psychiatrische Rehabilitation“, diese konnten aber optional hinzugefügt werden.

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Körperfunktionen*

Einzelitems

Beurteiler

Funktionen der psychischen Energie und des Antriebs3 Funktion des Schlafes3 Funktion der Orientierung1 Funktion der Intelligenz1 Funktion der Aufmerksamkeit1 Funktion des Gedächtnisses1 psychomotorische Funktion3 Funktion der Emotionalität2 Funktion der Wahrnehmung1 Funktion des Denkens1 höhere kognitive Funktionen1 Funktion der Selbstwahrnehmung und Zeitwahrnehmung1 Temperament und Persönlichkeit Umweltfaktoren Produkte und Technologien Unterstützung und Beziehungen Einstellungen Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze Aktivitäten/Partizipation anhand von Lebensbereichen Lernen und Wissensanwendung (LB1) allgemeine Aufgaben und Anforderungen (LB2)

b130, b1300–b1304 b134, b1340, b13401, b1343, b1348 b114 b117 b140, b1400–b1402 b144, b1440–b1442 b147 b152, b1520–b1522 b156 b160, b1600–b1603 b164, b1640, b1641, b1643–b1646 b180, b1800–b1802 b126

Arzt/Psychologe Arzt Arzt Psychologe Psychologe Psychologe Arzt/Psychologe Alle Arzt Arzt/Psychologe Psychologe Arzt/Psychologe Alle

e165 e310, e340, e352, e315, e320 e410, e425, e430 e580

Alle Sozialarbeiter Alle Alle

d155, d160, d163, d166, d170, d172, d175, d177 d240, d2402, d210, d2100, d2101, 2102, d2103, d220, d2202, d2203, d230, d2303 d310–d329, d330–d349, d350, 355 d470, 4103, 4104, d4105, 430, d440, d4602

Psychologe/Ergotherapeut Sozialarbeiter

Kommunikation (LB3) Mobilität (LB4) Selbstversorgung (LB5) häusliches Leben (LB6) interpersonelle Interaktion und Beziehungen (LB7) bedeutende Lebensbereiche (LB8) gemeinschaftliches, soziales und staatsbürgerliches Leben (LB9)

d570, d5700, d5701, d5702, d510, d520, d5404 d610, d620, d630, d640, d6400, d6401, d6402, d6405 d710, d7100, d7101, d7102, d7103, d7104, d720, d7200, d7201, d7202, d7203, d7204, d730, d740, d750, d760, d770 d860, d870, d8701, d810–d839, d840–d859, d860–d879 d910, d920, d930

Alle Ergotherapeut/Sozialarbeiter Sozialarbeiter Sozialarbeiter Sozialarbeiter Ergotherapie/Sozialarbeiter Sozialarbeiter

*1 = Kognitionen, 2 = Emotionen, 3 = Psychomotorik/Motivation

Tab. 2 Beeinträchtigungsprofil der Diagnosecluster Mentale Funktionen (Kognition, Emotion, Psychomotorik/Motivation). ICD 10

Kognition

Emotion

Psychomotorik/

N

Motivation Schizophrenie affektive Störungen Persönlichkeitsstörungen

76,1 % 57,1 % 23,5 %

58,7 % 71,4 % 70,6 %

73,9 % 57,1 % 35,3 %

46 17 14

Power ab 80 % als ausreichend betrachtet, das Risiko für einen Betafehler also auf 20 % beschränkt. Für den Alphafehler gelten die üblichen Risiken von höchstens 5 %. Effektstärken wurden post hoc berechnet, um die praktische Bedeutsamkeit eines signifikanten Effektes zu beurteilen.

Ergebnisse



Es zeigten sich signifikante Unterschiede in den Körperfunktionen (aggregiert zu Kognitionen, Emotionen und Psychomotorik/ Motivation): Schizophrene Patienten sind die am stärksten beeinträchtige Gruppe (F (2,84) = 7,99, p < 0,001, Eta² = 0,16, f = 0,44 starker Effekt), gefolgt von Patienten mit affektiven Störungen. Insbesondere im kognitiven und psychomotorisch-motivationalen Bereich zeigen Schizophrene mehr Beeinträchtigungen, während die anderen beiden Patientengruppen erwartungsgemäß vor allem im emotionalen Bereich Probleme aufweisen

▶ Tab. 2). Kleine Effekte konnten mit dieser Stichprobengröße (● nicht aufgedeckt werden, da die Power nicht ausreichte. Eine explorative Faktorenanalyse, genauer gesagt4 eine Hauptkomponentenanalyse mit Varimaxrotation als orthogonale Rotation wurde durchgeführt. Das Ziel ist hier die möglichst umfassende Reproduktion der Datenstruktur durch möglichst wenige Faktoren und nicht eine kausale Interpretation der Faktoren, also eine Erklärung der Varianz der Variablen durch die Faktoren wie bei der Hauptachsenanalyse. Die orthogonale Rotation stellt künstlich Unabhängigkeit zwischen den Faktoren her, geht also davon aus, dass die Faktoren unkorreliert sind, was hier gerechtfertigt ist, weil eine Typenbildung das Ziel der Analyse ist (ansonsten wäre die Rotation zu wählen, die am besten die Einfachstruktur erreicht). Zur Prüfung der Eignung der Daten, also ob überhaupt ausreichende Interkorrelationen zwischen den Variablen vorhanden sind, wurde der Kaiser-MeyerOlkin-Koeffizient berechnet (0,76). Die Anzahl der Faktoren wurde mit dem Scree-Test bestimmt. Es lassen sich unabhängig von den 3 Diagnoseclustern 3 Typen (3 Eigenwerte links von einem Knick im Eigenwerteverlauf: 2,7; 2,3; 1,6) von Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit differenzieren. Es wurden 13 Variablen in die Analyse einbezogen: die 3 aggregierten Variablen der Komponente Körperfunktionen (Kognitionen, Emo4

Weil bei der Hauptkomponentenanalyse die Residual- und Fehlervarianz nicht berücksichtigt wird wie im mathematischen Modell der Faktorenanalyse vorgesehen, sondern es ausschließlich um die Reduktion von Daten und um die Reduktion von Interkorrelationen zwischen den Variablen geht, stellt sie im eigentlichen Sinn keine Faktorenanalyse dar.

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Tab. 1 ICF-Items des Core Sets aus den Komponenten Körperfunktionen, Umweltfaktoren und Aktivitäten/Partizipation, letztere anhand von Lebensbereichen.

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Kognitionen Psychomotorik/Motivation Emotionen Persönlichkeit/Temperament Lernen/Wissensanwendung Allgemeine Aufgaben Mobilität Kommunikation Selbstversorgung Häusliches Leben Interpersonelle Interaktionen/Beziehungen Bedeutende Lebensbereiche Gemeinschaft, soziales und staatsbürgerliches Leben

Kognitiver Typ 0,70 0,12 0,01 − 0,08 0,82 0,66 − 0,12 0,74 0,26 0,45 0,40 0,16 0,29

tionen, Psychomotorik/Motivation) mit den jeweils dazugehörigen Items und Persönlichkeit/Temperament als Einzelitem sowie die 9 Lebensbereiche für die Komponenten Aktivitäten und ▶ Tab. 1). Es Partizipation mit den jeweils dazugehörigen Items (● ergeben sich überwiegend positive Ladungen (Korrelationen der Variablen mit den Faktoren; je höher, desto bedeutsamer ist die Variable also für diesen Faktor), die ab einer Größe von 0,30 als relevant erachtet wurden. Folgende Interpretation der Faktoren mithilfe der Items der Körperfunktionen (exakt der mentalen Funktionen) erscheint sinnvoll: Faktor 1 „Kognitiver Typ“, auf den insbesondere Items aus den Domänen Lernen und Wissensanwendung, Allgemeine Aufgaben sowie Kommunikation laden. Faktor 2 „Psychomotorisch-motivationaler Typ“, auf den insbesondere Items aus den Domänen Mobilität, Selbstversorgung sowie Häusliches Leben laden. Faktor 3 „Emotionaler Typ“, auf den insbesondere Items aus der Domäne Interpersonelle Interaktionen/Beziehungen laden. Die 3 Faktoren erklären 51 % der ▶ Tab. 3). Gesamtvarianz innerhalb der ICF-Beeinträchtigungen (● Die nachfolgende varianzanalytische Analyse mit den für jede Person gebildeten Faktorwerten, inwieweit sich die 3 Diagnosecluster den 3 ICF-Beeinträchtigungstypen deckungsgleich zuordnen lassen, zeigt, dass lediglich (!) der Kognitive Typ sign. mehr schizophrene Patienten aufweist und sign. weniger Patienten mit Persönlichkeitsstörungen, F (2,84) = 6,3, p < 0,01, Eta² = 0,13, f = 0,39 mittlerer bis starker Effekt. Allerdings kann das Beta-Fehler-Risiko bei dieser Stichprobengröße nur im tolerierten Ausmaß gehalten werden (20 %), wenn eine mind. mittlere Effektstärke (f = 0,25) wie hier vorliegt. Zur Aufdeckung kleinerer Effekte ist die Power nicht ausreichend. Die Zuordnung therapeutischer Interventionen erfolgt (noch) nicht systematisch gemäß Beeinträchtigungstyp. T-Tests mit den dichotomisierten Faktoren (positive vs. negative Ladung) zeigen lediglich, dass Patienten vom psychomotorisch-motivationalen Beeinträchtigungstyp (Faktor 1) mehr ärztliche und weniger psychotherapeutische Interventionen erhalten: t (97) = –3,11, p < 0,01, d = 0,63, t (97) = 1,93, p < 0,05, d = 0,39, beides mittlere bis starke Effekte. Auch hier ist allerdings die Power nur für mittlere Effekte ausreichend (ab d = 0,5). Bezüglich der Kontextfaktoren (nur Umweltfaktoren) wurde zunächst das Ausmaß an Ressourcen und Barrieren in der Gesamtstichprobe quantifiziert, um anschließend mithilfe von Korrelationen zwischen Umweltfaktoren und ICF-Beeinträchtigungen in Aktivtäten (Lebensbereiche 1–4) und Partizipation (Lebensbereiche 5–9) qualitative Unterschiede zu analysieren. Die größte Barriere für psychisch Kranke ist die soziale Umwelt Queri S. ICF-Assessment in der psychiatrischen … Rehabilitation 2014; 53: 230–236

Psychomotorisch-

Emotionaler

motivationaler Typ

Typ

0,19 0,64 0,03 0,01 0,23 0,36 0,60 − 0,05 0,75 0,62 − 0,15 0,39 0,45

0,05 − 0,02 0,61 0,24 0,08 0,10 0,03 0,03 0,01

Tab. 3 Interpretation der extrahierten Faktoren (Ladungen > 0,30 fett).

0,69 0,49 0,04

(für über 50 %, Median bei –2 auf der 4-stufigen Skala), nicht hingegen die Versorgung mit Einrichtungen/Diensten (Median 0). Bezüglich der Ressourcen ergibt sich für 58 % der Patienten, dass keinerlei Umweltfaktoren als Ressourcen geratet wurden (Median 0)! Qualitativ (korrelativ) sehen wir insgesamt mit einer Zunahme der Förderfaktoren weniger Beeinträchtigungen und je mehr Barrieren, desto größer sind Beeinträchtigungen bei mitt▶ Tab. 4 zeigt, dass insbeleren Effektstärken von 0,25 (n = 77). ● sondere die Vermögenswerte (Item e165 Produkte und Technologien) sowie mangelnde soziale Unterstützung (Items e310, e340, e352, e315, e320 Unterstützung und Beziehungen) von Bedeutung sind für die Beeinträchtigungen in Teilhabe und Aktivitäten, die eine chronische psychische Krankheit nach sich zieht.

Diskussion



Von Rehabilitationsfachleuten [16] wird schon seit einigen Jahren gefordert, „soziale Partizipation“ als Erfolgskriterium einer Rehabilitationsmaßnahme zu messen (nicht nur die Symptomreduktion), wobei aber der Einsatz entsprechender standardisierter Instrumente [17, 18] meist noch nicht erfolgt. Angesichts der Umsetzungsverantwortung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) wird dies immer wichtiger. Ein auf ICF-Basis entwickeltes Messinstrument wurde auf seine grundsätzliche Eignung als Screener zur Feststellung der Funktionsfähigkeit im Rehabilitationssetting (also mit Fokus auf Teilhabe) getestet, wobei primär das Ziel verfolgt wurde, die Sinnhaftigkeit einer eigenständigen Rehabilitationsdiagnostik aufzuzeigen und nicht ein Messinstrument zu prüfen. Aus gesundheitsökonomischer Perspektive stellte sich darüber hinaus die Frage, ob eine systematische Zuordnung von Interventionen in Bezug auf die ICF-Beeinträchtigungen erfolgt. Außerdem ist die Bedeutung der Umweltfaktoren (ökonomisch) von Belang, die gemäß ICF-Logik in Interaktion mit der Krankheit die funktionale Gesundheit bzw. Behinderung bestimmen. Die Ergebnisse zeigen, dass der eingesetzte Core Set die notwendige diskriminante Konstruktvalidität aufweist und die erwarteten Unterschiede zwischen den Diagnoseclustern in der Funktionsbeeinträchtigung aufdeckt. Die Diagnosecluster weisen die gemäß klinischem Augenschein erwartete Rangreihung auf, indem schizophrene Patienten die stärksten Beeinträchtigungen haben, gefolgt von Patienten mit affektiven Störungen und zuletzt Patienten mit Persönlichkeitsstörungen.

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Domänen und Körperfunktionen

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Tab. 4 Korrelative Zusammenhänge zwischen ICF-Umweltfaktoren (UF) als Barriere (B) oder Förderfaktor (F) und den ICF-Lebensbereichen (LB) zur Klassifikation von Beeinträchtigungen in Aktivitäten (LB 1–4) und Teilhabe (LB 5–9). UF 1 B

UF 1 F

UF 2 B

UF 2 F

UF 3 B

UF 3 F

UF 4 B

UF 4 F

LB 1 LB 2

0,04 − 0,01

− 0,06 0,10

0,01 − 0,04

− 0,10 − 0,03

− 0,09 − 0,15

− 0,15 − 0,07

0,03 0,11

LB 3 LB 4

0,05 − 0,10

− 0,04 0,14

0,05 − 0,01

− 0,16 0,01

0,00 − 0,07

0,02 0,01

LB 5

− 0,01

0,10

− 0,08

0,00

0,00

− 0,09

0,12

LB 6 LB 7

0,03 − 0,07

0,00 − 0,08

− 0,02 0,02

0,07 0,00

− 0,07 0,00

0,10

0,00

0,06

0,01

− 0,13 − 0,25 p < 0,05 0,01

0,09 − 0,01

LB 8

0,11 − 0,27 p < 0,01 − 0,24 p < 0,05 − 0,10 − 0,24 p < 0,05 − 0,09

− 0,14 − 0,25 p < 0,05 0,03 − 0,10

LB 9

0,06

0,02

0,01

− 0,02

0,05

− 0,09

0,04

− 0,23 p < 0,05 0,14

0,03

Umweltfaktoren (UF): Einstellungen (1), Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze (2), Produkte und Technologien (3), Unterstützung und Beziehungen (4)

Zukünftig sollte aber keine ausschließliche Orientierung mehr an Diagnosen bei der Interventionsallokation stattfinden, da die 3 extrahierten Typen funktionaler Beeinträchtigungen als Rehabilitationsbedarfstypen interpretiert werden können. Nachdem diese 3 Typen unabhängig von den ICD-Diagnosen sind, begründen sie die Sinnhaftigkeit einer eigenständigen Rehabilitationsdiagnostik. Das heißt, in den ICF-Beeinträchtigungstypen finden sich jeweils Patienten aller Diagnosen, was deutlich macht, dass Patienten mit gleicher Störung unterschiedliche Beeinträchtigungen in ihrer funktionalen Gesundheit haben und Patienten mit unterschiedlichen Krankheiten die gleichen. Dieser Befund korrespondiert mit dem von Linden et al. [19], deren Mini-ICFAPP ebenfalls von der ICD-10 unabhängige Dimensionen erfasst. Gemäß der ICF-Logik ergibt sich nun die Frage, inwieweit diese Unterschiede zwischen Patienten gleicher Diagnose möglicherweise aufgrund unterschiedlicher Kontextfaktoren zustande kommen. Wir haben bezüglich der Umweltfaktoren in unserer Analyse gesehen, dass Teilhabe von der finanziellen Situation (einziges Item des Umweltfaktors Produkte und Technologien war Vermögenswerte) und sozialer Unterstützung abhängig ist [20–22]. Diese korrelativen Zusammenhänge zwischen ICF-Beeinträchtigungen und Umweltfaktoren begründen allerdings keine einseitige Kausalität: Ob die Umweltfaktoren als Förder- bzw. Barrierefaktor wirken oder die funktionale Beeinträchtigung die Umwelt verändert, bleibt offen. Die Vorstellung, dass die Funktionsfähigkeit das Ergebnis der Interaktion zwischen Krankheit und Kontextfaktoren ist, ist bisher lediglich theoretisch beschrieben. Aufgrund unseres Datenniveaus können wir allerdings auch nicht nachweisen, dass Umweltfaktoren wie mangelnde Vermögenswerte oder mangelnde soziale Unterstützung als Moderatoren oder gar Mediatoren wirken. Weitere Studien, die auch gesunde Kontrollen einbeziehen und die notwendige Power aufweisen, sind notwendig, um diese theoretische Annahme empirisch abzusichern. Ein weiterer Kritikpunkt am Datenniveau ist die mangelhafte Skala (s. Methodenteil) zur Erfassung der ICF-Beeinträchtigung. Die lediglich 5-stufige Skala der ICF ist für eine Veränderungsmessung eigentlich zu undifferenziert [3]. Außerdem liegt kein Intervallskalenniveau vor, was die Berechnung von Mittelwerten problematisch macht. Noch problematischer ist die mangelnde

Konkretheit der Beurteilung der Beeinträchtigungsschwere. Erläuterungen, wie sie bspw. im Mini-ICF-APP zur Verfügung stehen (z. B. 3 = es muss jemand unterstützen bzw. helfend eingreifen), existieren (noch) nicht. Darüber hinaus ist noch keine psychometrische Prüfung des eingesetzten Core Sets erfolgt, wie bei anderen Core Sets [23, 24], was die Generalisierbarkeit der Ergebnisse unzulässig macht. Bezüglich der inhaltslogischen Prüfung der extrahierten Faktoren sind weitere Überlegungen anzustellen. Befremdlich wirkt bspw., dass die Domäne „interpersonelle Interaktionen/Beziehungen“ auf den Faktor „emotionaler Typ“ hochlädt, aber die Domäne „Kommunikation“ nicht. In vorliegender Untersuchung erklärt sich dieser Befund damit, dass Kommunikation als Aktivität beurteilt wurde, also als rein „technische“ Fähigkeit, ein Gespräch zu führen. Auch die Ergebnisse zur Interventionsallokation begründen weiteren Forschungsbedarf, da keine systematische Zuordnung der Rehabilitationsinterventionen gemäß ICF-Beeinträchtigungstypen gezeigt werden konnte. Im Bereich psychosomatischer Rehabilitation z. B. konnten Dietsche et al. [25] zumindest einen Zusammenhang mit der subjektiven Beeinträchtigungseinschätzung der Patienten nachweisen. Analog zur Therapieforschung muss hier nun erst einmal empirisch nachgewiesen werden, welche Intervention bei welcher ICF-Beeinträchtigung erfolgreich ist, um Standards wie etwa im ergotherapeutischen Bereich [26] abzuleiten. Zuvor muss jedoch die Stabilität der hier extrahierten Typen (Faktoren) auch noch an weiteren Datensätzen nachgewiesen werden.

Schlussfolgerung



Eine eigenständige Rehabilitationsdiagnostik ist wissenschaftlich begründet. Die Möglichkeit einer Standardisierung des verwendeten Core Sets ist noch zu prüfen. Gesundheitsökonomisch wäre zu analysieren, inwieweit sich Vorteile aus der passgenauen Allokation von Interventionen ergeben. Künftige Forschung sollte die passenden Interventionen zu den 3 Rehabilitationsbedarfstypen aufzeigen sowie die Bedeutung individuumszentrierter (Integration) und umweltzentrierter (Inklusion) Maßnahmen für Politik und Gesundheitsadministration quantifizieren. Die Befunde zum Einfluss der Umweltfaktoren weisen dar-

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auf hin, auch die noch nicht von der WHO mit Kategorien und Items spezifizierten personbezogenen Faktoren in die Analyse einzubeziehen.

Kernbotschaft Rehabilitationsdiagnostik auf Basis der ICF-Komponenten erfasst von der ICD unabhängige Dimensionen und ist deshalb als eigenständige Diagnostik zu verstehen und einzusetzen. Zeigen sich längerfristig stabile ICF-Typen auf diese Weise, wird eine Klassifikation mithilfe der ICF möglich (mit den damit verbundenen Vor- und Nachteilen!).

Interessenkonflikt: Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Literatur 1 World Health Organization (WHO), Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI), WHO-Kooperationszentrum für die Familie Internationaler Klassifikationen, Hrsg. ICF Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (deutsche Fassung).Genf: WHO; 2005. Im Internet www.dimdi.de/ static/de/klassi/index.htm; Stand: 27.12.2012 2 World Health Organization. ICD-10 International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems. 2010 Edition 10th Revision. Genf: WHO; 2011 3 Leitner A, Kaluscha R, Jacobi E Praktische Nutzung der ICF: Erprobung eines neuen Ansatzes in vier Kliniken. Rehabilitation 2008; 47: 226–235 4 Geyh S, Peter C, Müller R et al. The personal factors of the International Classification of Functioning, Disability and Health in the literature – a systematic review and content analysis. Disability and Rehabilitation 2011; 33: 1089–1102 5 Grotkamp S, Cibis W, Nüchtern E et al. Personbezogene Faktoren der ICF. Beispiele zum Entwurf der AG „ICF“ des Fachbereichs II der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP). Gesundheitswesen 2012; 74: 449–458 6 Grotkamp S, Cibis W, Bahemann A et al. Bedeutung der Personbezogenen Faktoren für die praktische Nutzung im Gesundheitswesen. Gesundheitswesen [im Druck] 7 Geyh S, Muller R, Peter C et al. Capturing the psychologic-personal perspective in spinal cord injury. American Journal of Physical Medicine and Rehabilitation 2011; 90 (Suppl 2): S79–S96 8 Kirschneck M, Kirchberger I, Amann E et al. Validation of the comprehensive ICF core set for low back pain: the perspective of physical therapists. Manual Therapy 2011; 16: 364–372 9 Kirchberger I, Gläßel A, Cieza A et al. Validation of f the ICF Core Sets for rheumatoid arthritis: The perspective of physical therapists. Physical Therapy 2007; 87: 368–383 10 Kupferberg G, Heckers S. Schizophrenia and cognitive function. Current Opinion in Neurobiology 2000; 10: 205–210 11 Lautenbacher S, Gauggel S. Neuropsychologie psychischer Störungen. Berlin, Heidelberg: Springer; 2003 12 Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Funktionale Gesundheit. Gesundheit und Behinderung im neuen Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation (ICF). Workshop des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland am 29. und 30.September 2005 Berlin, Stuttgart: EKD; 2006. Im Internet www.paritaet-bw.de/content/e153/e178/e3983/e3652/PDF/icf_dia konie05.pdf; Stand: 27.12.2012

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236 Originalarbeit

[ICF assessment in the field of psychiatric rehabilitation--a rationale for a stand-alone rehabilitation assessment].

Assessment in the field of rehabilitation tries to establish the impairment of the functional health on basis of an existent ICD disease. Regarding th...
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