Leitthema Nervenarzt 2015 · 86:954–959 DOI 10.1007/s00115-014-4252-y Online publiziert: 25. Juni 2015 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

J.B. Schulz1, 2 · G. Deuschl3 1 Neurologische Klinik, RWTH Aachen 2 JARA – Translational Brain Medicine, Aachen 3 Neurologische Klinik, Universitätsklinik Schleswig Holstein, Campus Kiel

Einfluss des Lebensstils auf neurodegenerative Erkrankungen Seit Langem sind Risikofaktoren für das Auftreten kardiovaskulärer Erkrankungen in der Medizin, aber auch in der Allgemeinbevölkerung und beim Patienten anerkannt. Zu den durch den Lebensstil beeinflussbaren Risikofaktoren zählen arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus, Adipositas, Hypercholesterinämie, Nikotinabusus und Bewegungsarmut. Risikofaktoren für neurodegenerative Erkrankungen – abgesehen vom Alter und gewissen genetischen Risikofaktoren – sind weit weniger bekannt und akzeptiert. Das gilt insbesondere für solche, die durch den Lebensstil zu beeinflussen sind.

Hintergrund Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass die Risikofaktoren für Demenzen denen der kardiovaskulären Erkrankungen sehr ähnlich sind. So wurden in einer Metaanalyse die arterielle Hypertonie, der Nikotinabusus und Diabetes mellitus sowie das metabolische Syndrom als Risikofaktoren identifiziert. Der mediterranen Diät, dem Konsum von Gemüse, Früchten und ω3-Fettsäuren sowie regelmäßiger körperlicher und geistiger Aktivität wurden dagegen protektive Eigenschaften zugesprochen [1].

954 | 

Der Nervenarzt 8 · 2015

Inzidenz und Prävalenz der Demenzen Aufgrund der demografischen Entwicklung wird die Prävalenz neurodegenerativer Erkrankungen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten dramatisch zunehmen. Wenn jedoch das gewachsene Gesundheitsbewusstsein in den letzten Jahrzehnten Erfolge zeigt, müsste die altersspezifische Prävalenz neurodegenerativer Erkrankungen bei Menschen, die gegen Ende der 1. Hälfte des 20. Jh.s geboren wurden, abnehmen. Hierzu tragen die stringentere Behandlung der arteriellen Hypertonie und des Diabetes mellitus als zu früheren Zeiten, der verminderte Nikotinkonsum und die gesündere Ernährung sowie regelmäßige körperliche Aktivität bei. Entsprechende Daten wurden erstmals 2005 von Manton et al. [2] publiziert. Basierend auf 5 Erhebungen zur nationalen Langzeitpflege in den USA über 17 Jahre zwischen 1982 und 1999 wurde nicht nur eine Minderung chronischer Behinderungen von 1% pro Jahr, sondern in dieser Kohorte auch eine Prävalenzsenkung der schweren kognitiven Beeinträchtigung von 5,7% (1982) auf 2,9% (1999) beobachtet. Es wurde nicht zwischen den verschiedenen Ursachen einer Demenz unterschieden. Als potenzielle ursächliche Faktoren wurden eine bessere (längere) Ausbildung, eine Reduktion der Schlaganfallereignisse und andere mögliche Faktoren diskutiert. Langa et al. [3] untersuchten longitudinale Daten der repräsentativen U.S.

Health and Retirement Study von Personen über 70 Jahren aus den Erhebungen von 1993 (n=7406) und 2002 (n=7104). Eine kognitive Einschränkung wurde 1993 bei 12,2% und 2002 bei 8,7% der Untersuchten berichtet oder festgestellt. Diese war in beiden Jahren mit einer signifikant erhöhten Zweijahresmortalitätsrate assoziiert. Eine längere Ausbildung wurde als protektiver Faktor identifiziert. Es wurde gefolgert, dass eine Kombination von Trends in der medizinischen Versorgung, des Lebensstils, der Demografie und sozialer Faktoren positiven Einfluss auf die kognitive Gesundheit älterer Amerikaner hat.

»

Gewachsenes Gesundheitsbewusstsein trägt zur Abnahme neurodegenerativer Erkrankungen bei Die beiden bisher beschriebenen amerikanischen Studien sind aufgrund ihres Designs und der Methoden zur Erfassung einer kognitiven Einschränkung anfechtbar. Sie werden jedoch in ihrer Aussage durch 3 kürzlich publizierte, prospektive und z. T. longitudinale europäische Studien unterstützt und erweitert [4, 5, 6]. Für die Daten der Rotterdam-Studie wurde 2 unabhängige Subkohorten der gesamten Rotterdam-Kohorte mit einem Alter zwischen 60 und 90 Jahren in den Jahren 1990 (n=5727) und 2000 (n=1769) untersucht sowie für einen maximalen Zeitraum von 5 Jahren prospektiv ver-

Zusammenfassung · Summary folgt [4]. Die Teilnehmer hatten bei Studienaufnahme keine Demenz. Die Inzidenzraten wurden separat für Männer und Frauen und in jeweils Zehnjahresaltersstrata berechnet. In der 1990er-Kohorte mit 25.696 Personenjahren entwickelten 286 Personen eine Demenz, in der 2000er-Kohorte (8384 Personenjahre) waren es 49 Personen. Altersadjustierte Inzidenzraten einer Demenz waren konsistent, wenn auch nichtsignifikant niedriger in der 2000er-Kohorte in allen untersuchten Strata. Bei der Gesamtanalyse aller Patienten betrug die Inzidenzrate 2000/1990 0,75. Die Prävalenz einer arteriellen Hypertonie und einer Apositas nahm signifikant von 1990 bis 2000 zu, aber auch die Verwendung antithrombotischer Medikamente und von Lipidsenkern. Die statistische Aussagekraft der Studie litt unter der vergleichsweise kleinen Fallzahl, insbesondere der 2000er-Kohorte. Interessanterweise hatten Teilnehmer bei Untersuchung in den Jahren 2005/2006 größere Hirnvolumina (p>0,001) und weniger Mikroangiopathien als die Teilnehmer in den Jahren 1995/1996. Die Autoren schlossen daraus, dass ihre Daten für eine Abnahme der Demenzinzidenz sprechen. Sie machten dafür die verbesserte Bildung, eine Reduktion vaskulärer Risikofaktoren und eine Abnahme der Schlaganfallinzidenz verantwortlich. In einer schwedischen Studie [5] wurden 2 Querschnittserhebungen bei über 74-jährigen Stockholmern in den Jahren 1987–1989 (n=1700) und 2001–2004 (n=1575) durchgeführt. In den Jahren 1994 bzw. 2008 wurde anhand von Todesbescheinigungen das Überleben der Teilnehmer überprüft. Bei Studienaufnahme wurde bei 225 Teilnehmern (17,5%) in der frühen und 298 Teilnehmern (17,9%) in der späten Kohorte eine Demenz gemäß den Kriterien des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSMIII-R) diagnostiziert. Da das multiadjustierte Risiko, im Beobachtungszeitraum zu versterben, sich bei dementen Patienten auf 0,71 reduziert hatte und sich damit faktisch der Erkrankungsverlauf der einzelnen Patienten verlängert, argumentierten die Autoren, dass diese Zahlen bei stabiler Prävalenz für eine reduzierte Inzidenz der Demenzen sprechen.

956 | 

Der Nervenarzt 8 · 2015

Nervenarzt 2015 · 86:954–959  DOI 10.1007/s00115-014-4252-y © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 J.B. Schulz · G. Deuschl

Einfluss des Lebensstils auf neurodegenerative Erkrankungen Zusammenfassung Lebensstilfaktoren im mittleren Lebensabschnitt beeinflussen das Risiko, im weiteren Verlauf des Lebens eine neurodegenerative Erkrankung zu entwickeln. Gute Daten für Lebensstilfaktoren liegen heute für die Alzheimer- und die Parkinson-Krankheit vor. Rege körperliche und geistige Aktivität, eine ausgewogene Ernährung oder eine mediterrane Diät mit hohem Anteil ungesättigter Fettsäuren, die medikamentöse Behandlung einer arteriellen Hypertonie, ein ausreichender und unfragmentierter Schlaf und möglicherweise die Behandlung mit liquorgängigen Statinen verringern das Risiko, im höheren Lebensalter an einer Demenz zu erkranken. Mehrere Studien der letzten Jahre belegen, dass die altersadjustierte Inzidenz der Demenzen über

die letzten Jahre abgenommen hat. Dieses ist vermutlich auf einen gesünderen Lebensstil und die medikamentöse Behandlung von Risikofaktoren zurückzuführen. Auch für die Parkinson-Krankheit konnte ein protektiver Einfluss regelmäßiger körperlicher Aktivität auf ihre Entstehung nachgewiesen werden. Ob Lebensstilfaktoren auch nach klinischer Manifestation einer Alzheimer- oder Parkinson-Krankheit noch Einfluss auf den weiteren Verlauf und die Progression der Erkrankung haben, ist fraglich. Schlüsselwörter Lebensstil · Erkrankungen des Gehirns ·   Kognition · Körperliche Aktivität · Schlaf

Influence of lifestyle on neurodegenerative diseases Summary Lifestyle factors in midlife have an important influence on the risk of developing a neurodegenerative disease during later life. Data on lifestyle factors exist for Alzheimer’s disease and Parkinson’s disease. Continuous physical and cognitive activity, a balanced or Mediterranean diet with a high proportion of unsaturated fatty acids, the pharmacological treatment of arterial hypertension, sufficient and unfragmented sleep and possibly treatment with lipophilic statins reduce the risk of developing dementia later in life. Several studies in recent years have provided evidence that during the last decades

In einer englischen Studie werden die Daten der Cognitive Function and Ageing Studies (CFAS I und II, [6]) verglichen. In beiden Querschnittsstudien wurde in den gleichen Regionen zwischen 1989 und 1994 (CFAS I, n=7635) und 2008–2011 (CFAS II, n=7796) mit den gleichen Methoden die Demenzprävalenz bestimmt. Während für CFAS I eine standardisierte Demenzprävalenzrate von 8,3% festgestellt wurde, betrug diese für CFAS II 6,5%. Die Autoren schlussfolgern, dass später geborene Populationen ein reduziertes Risiko für eine Demenz aufweisen. Mögliche Gründe seien die bessere Bildung, die bessere Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen trotz gegenläufiger Entwicklungen wie Diabetespräva-

the age-adjusted incidence of dementia has decreased. This is probably due to a healthier lifestyle and the treatment of risk factors. Continuous physical activity also decreases the likelihood of developing Parkinson’s disease. Whether lifestyle factors also have an influence on the course and the progression of Alzheimer’s and Parkinson’s diseases in the symptomatic stages is unknown. Keywords Lifestyle · Brain diseases · Cognition ·   Physical activity · Sleep

lenz oder Schlaganfallüberleben; Faktoren, die die Prävalenz der altersabhängigen Demenz theoretisch erhöhen könnten. Wenn auch unterschiedlich ausgeprägt, so ist die Konsistenz der Daten eindeutig. In einem Zeitraum von 2 Jahrzehnten scheinen die altersadjustierte Inzidenz und Prävalenz rückläufig. Dem stehen natürlich die demografische Entwicklung, die stetig steigende Lebenserwartung und damit das ansteigende Risiko, eine Demenz zu entwickeln, entgegen. Über die eigentlichen Ursachen dieser Entwicklung, die vermutlich multifaktoriell sind, kann nur anhand einzelner, subjektiv ausgewählter Faktoren spekuliert

werden. Die meisten dieser Faktoren sind durch Korrelation und Assoziation identifiziert worden. Epidemiologische Interventionsstudien stellen aufgrund des notwendigen Stichprobenumfangs, der benötigten Zeitdauer, der kaum überschaubaren zu kontrollierenden Kofaktoren und letztlich auch ethischer Rahmenbedingungen eine große Herausforderung dar und wurden bisher kaum mit hinreichendem Studiendesign durchgeführt.

»

Intermittierendes kognitives Training führt zu einer verbesserten kognitiven Funktion Intermittierendes kognitives Training führt zu verbesserten Aktivitäten des täglichen Lebens und zu einer verbesserten kognitiven Funktion über einen Zeitraum von 10 Jahren [7]. Insbesondere behielten Interventionen zur Verarbeitungsschnelligkeit von Informationen und zum logischen Denken ihre Effekte über 10 Jahre, während die Effekte eines reinen Gedächtnistrainings weniger lang anhielten.

Bildung, geistige Aktivität und kognitives Training Wie bereits beschrieben, gelten eine längere Ausbildungszeit und ein höheres Bildungsniveau als Schutz vor dem Auftreten einer Demenz. Dabei bleibt aber völlig ungeklärt, ob tatsächlich das Auftreten der für die Alzheimer-Krankheit typischen Veränderungen im Gehirn verhindert bzw. herausgezögert oder ob durch eine bessere kognitive Reserve die neuropathologischen Veränderungen besser und länger kompensiert werden können. Letzteres scheint angesichts der sehr langen, möglicherweise bis zu 20 Jahre andauernden [8] asymptomatischen Phase der neuropathologisch definierten Alzheimer-Krankheit wahrscheinlich. Die Annahme einer besseren Kompensation bestehender neuropathologischer Veränderungen wird gestützt durch Befunde eines fehlenden Einflusses von Lebensstilfaktoren (intellektuelle und körperliche Aktivitäten) auf Biomarker der Alzheimer-Krankheit [hippokampales Volumen im Magnetresonanztomogramm (MRT), Amyloidlast im „Pittsburgh-

compound-B“-Positronen-EmissionsTomogramm (PiB-PET) und neuronale Aktivität im Fluordesoxyglucose-Positronen-Emissions-Tomogramm (FDGPET)], obwohl die intellektuellen Aktivitäten einen positiven Einfluss auf den gesamten kognitiven Befund zeigten [9].

tor-δ (PPAR-δ) aktivieren. Letzterer ist ein Transkriptionsfaktor, der die Kontraktilität und den Metabolismus der schnellen Muskelfasern (Typ II) reguliert. Die Effekte der Muskelaktivität können experimentell pharmakologisch mit Agonisten der AMPK nachgeahmt werden [12].

Körperliche Aktivität

Körpergewicht

Körperliche Aktivität ist ein robuster Faktor, der vor der Entstehung von Demenzen schützt [1]. In einer Metaanalyse haben Reiner et al. [10] die Daten aus 6 longitudinalen Studien zusammengefasst. Körperlich aktive Menschen haben ein geringeres Risiko, eine kognitive Beeinträchtigung zu entwickeln und verfügen über eine höhere kognitive Leistungsfähigkeit. Interessanterweise nimmt die Inzidenz für eine Demenzerkrankung mit der täglichen Gehstrecke ab (unter 0,25 Meilen/Tag > 0,25–1 Meilen/Tag > mehr als 2 Meilen/Tag, [11]).

Adipositas gilt als Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen und wird meist auch mit einem erhöhten Risiko für eine Demenz assoziiert [13]. Dies wird aber durch eine aktuelle Studie infrage gestellt [14]. Bisher galt ein hoher Body-MassIndex (BMI) im mittleren Lebensabschnitt als Risikofaktor, eine Demenz zu entwickeln [13]. Dieses Risiko stieg noch weiter an, wenn sich der BMI zwischen dem mittleren und dem späten Lebensabschnitt deutlich reduzierte. Ein hoher BMI im späten Lebensabschnitt war mit einem niedrigen Risiko für eine Alzheimer-Krankheit und einer weniger deutlich ausgeprägten Risikoreduktion für eine Demenz assoziiert. Eine kürzlich publizierte retrospektive Kohortenstudie [14] mit 2.000.000 Teilnehmern über einen Zeitraum von 20 Jahren, einem medianen Studienaufnahmealter von 55 Jahren und einer medianen Nachverfolgung der Patienten über 9,1 Jahre zeigte jedoch, dass untergewichtige Personen (BMI 40 mg/kg2) gegenüber Personen mit einem gesunden Gewicht auf. Dieser Trend bestand für den gesamten Beobachtungszeitraum von 20 Jahren nach Adjustierung von Einflussfaktoren und des Einflusses des BMI auf die Mortalität. Eine eindeutige Assoziation von hohem Körpergewicht zu einer gesteigerten Inzidenzrate von Demenzen kann somit nicht aufrechterhalten werden. Im hohen Lebensalter scheint eher ein erhöhter BMI vorteilhaft zu sein.

»

Körperlich aktive Menschen haben eine höhere kognitive Leistungsfähigkeit Der kausalen Gründe des bereits von den Römern erkannten Zusammenhangs zwischen gesundem Körper und gesundem Geist („mens sana in corpore sano“) sind nicht eindeutig geklärt. In Studien von Voss et al. [12] haben führte regelmäßige körperliche Aktivität in Nagetieren zur adulten Neurogenese, also zur Generierung neuer Neurone insbesondere im Hippocampus, zu Neuritenwachstum und zur Bildung neuer Synapsen. Im Signalweg, der diese adaptive Reaktion im Gehirn bewirkt, scheint insbesondere „brain-derived neurotrophic factor“ (BDNF) eine entscheidende Rolle zu spielen. Ergebnisse aus der Grundlagenforschung deuten darauf hin, dass in dieser Signalkaskade tatsächlich aus der Muskulatur Faktoren freigesetzt werden, die die Freisetzung von BDNF im Gehirn bewirken. Die derzeitige Datenlage spricht dafür, dass körperliche Aktivität in der Stimulation von adenosinmonophosphataktivierten Proteinkinasen (AMPK) in der Muskulatur resultiert, die wiederum den peroxisomproliferatoraktivierten Rezep-

Der Nervenarzt 8 · 2015 

| 957

Leitthema

Schlaf Eine Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus ist eine bekannte Herausforderung in der Behandlung der Alzheimer-Krankheit. Diese Störung hat einen hohen Einfluss auf die Lebensqualität der Patienten sowie ihrer Angehörigen und ist ein häufiger Grund für die Überweisung der Patienten in eine Pflegeeinrichtung. Während Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus bisher als Konsequenz des Erkrankungsprozesses betrachtet wurden, zeigen neue Daten, dass die Veränderungen früh im Erkrankungsverlauf auftreten und möglicherweise zur Pathogenese der Alzheimer-Krankheit beitragen. Schlafstörungen sind mit einem um das 1,75-Fache erhöhten Risiko, eine Demenz in den nächsten 1 bis 9 Jahren zu entwickeln, verbunden [15]. Eine besondere Rolle kommt der Fragmentierung des Schlafs zu. Neue PET-Studien bei klinisch gesunden Probanden zeigen ferner, dass präsymptomatische β-Amyloid-Ablagerungen bei Schlafstörungen gehäuft auftreten und möglicherweise ein Biomarker für ein frühes (präklinisches) Stadium der Erkrankung darstellen [16]. Studien aus der tierexperimentellen Forschung [17] belegen eine deutliche Tag-Nacht-Rhythmik der Aβ-Freisetzung. Die höchste Freisetzung erfolgte zur wachen Zeit und die niedrigste Freisetzung zur Schlafzeit. Anschließend wurden ähnliche Ergebnisse bei Messung der Aβ-Konzentration in Liquor und Plasma beim Menschen erhoben [16, 17]. Die vermehrte Freisetzung von Aβ während des Tages ist vermutlich auf die höhere neuronale Aktivität während der Wachheit zurückzuführen, während nachts der Abbau des Amyloids erfolgt. Eine forcierte Schlafdeprivation bewirkt die erhöhte Aβ-Freisetzung im Gehirn von Mäusen [17]. Eine Behandlung mit dem Orexinrezeptorantagonisten Almorexant, der Schlaf induziert, führt zur Abnahme der Amyloidlast im Gehirn. D Ab dem mittleren Lebensalter

sollte auf regelmäßigen Schlaf-WachRhythmus und ausreichenden unfragmentierten Schlaf geachtet werden.

958 | 

Der Nervenarzt 8 · 2015

Ob zugelassene schlafinduzierende Medikamente, z. B. Melatonin oder Agomelatin, oder Medikamente, die kurz vor der Zulassung stehen, z. B. Orexinrezeptorantagonist (Suvorexant), Melatoninrezeptoragonisten (Ramelteon, Tasimelteon), sich zur Behandlung der AlzheimerKrankheit eignen, kann ohne entsprechende Studien nicht beantwortet werden.

Medikamente Neben der Betrachtung von Bildung, Körpergewicht sowie geistiger und körperlicher Aktivität stellt sich die Frage, ob Medikamente, die bestimmte Risikofaktoren beeinträchtigen, einen positiven (protektiven) Einfluss auf die Entstehung von Erkrankungen haben.

Antihypertensiva Eine arterielle Hypertonie im mittleren Lebensabschnitt gilt als Risiko für die spätere Entwicklung einer Demenz, während im späten Lebensabschnitt eine arterielle Hypotonie mit schlechterer Kognition assoziiert ist [18]. Nur wenige Studien adressieren die Auswirkungen einer antihypertensiven Therapie auf die Entstehung einer Demenz. In die Ginkgo Evaluation of Memory Study wurden 1928 Probanden mit normaler Kognition und 320 Patienten mit einer milden kognitiven Beeinträchtigung, in beiden Gruppen mit einem Mindestalter von 75 Jahren, aufgenommen und longitudinal über einen Median von 6,1 Jahren beobachtet [19]. Von den insgesamt 2248 Teilnehmern entwickelten 13% eine Demenz. Die Risikoquotienten, eine Alzheimer-Demenz zu entwickeln, betrugen bei Probanden mit normaler Kognition bei Gabe eines Diuretikums 0,51, eines Angiotensin-1Rezeptor-Blockers 0,31, eines „Angiotensin-converting-enzyme“-Inhibitors 0,50 und eines β-Rezeptoren-Blockers 0,58. Dabei spielte es für die protektiven Effekte keine Rolle, ob der Blutdruck effektiv unter 140 mmHg eingestellt war; auch bei höheren Blutdruckwerten blieben die Effekte erhalten. Bei Patienten, die bereits an einer milden kognitiven Beeinträchtigung litten, konnten positive Effekte nur für Diuretika beobachtet werden.

Lipidsenker Epidemiologische Studien wiesen bei Einnahme von Statinen auf eine Verringerung des Risikos, an einer Demenz zu erkranken, um bis zu 70% hin [20, 21]. Während es sich bei den ersten Studien um retrospektive Analysen handelt, bestätigen auch neue prospektive Studien [22] sowie neuropathologische Studien [23] diese Hypothese. Möglicherweise sind die neuroprotektiven Wirkungen auf bestimmte Statine, z. B. das liquorgängige Simvastatin, beschränkt [24]. Während frühe Studien einen positiven Einfluss von Simvastatin auf Biomarker der Alzheimer-Krankheit und kognitive Funktionen ergaben [25], konnten diese kognitiven Effekte in einer Phase-III-Studie mit Atorvastatin bei Patienten mit klinisch manifester Alzheimer-Demenz nicht bestätigt werden [26].

Idiopathisches Parkinson-Syndrom Mögliche Risikofaktoren für ein idiopathisches Parkinson-Syndrom sind mehrfach untersucht worden. Dabei erweisen sich nur das Alter, eine positive Familienanamnese und die regelmäßige Exposition gegenüber Lösungsmitteln (Trichloräthylen, Perchloräthylen, Tetrachlormethan) als robuste Risikofaktoren, während Nikotinabusus und Koffein protektive Eigenschaften aufweisen. Die möglichen protektiven Eigenschaften einer regelmäßigen körperlichen Betätigung waren bisher umstritten. Yang et al. [27] berichten über eine prospektive schwedischen Krebspräventionsstudie mit 43.368 Teilnehmern, deren körperliche Aktivitäten bei Studienaufnahme erfasst und die über einen Zeitraum von durchschnittlich 12,6 Jahren nachverfolgt wurden. Dabei wurden alle körperlichen Aktivitäten (Beruf, Haushalt, Freizeit und zurückgelegte Weg) erfasst. In diesem Zeitraum wurden 286 neue ParkinsonErkrankungen diagnostiziert. Für die männlichen Probanden zeigte sich ein inverser Zusammenhang zwischen gesamter körperlicher Aktivität und der Wahrscheinlichkeit, an Parkinson zu erkranken, mit einem Risiko von 0,53 bei hoher Aktivität im Vergleich zu niedriger Akti-

vität. Es fand sich jedoch weder bei Frauen noch bei Männern ein Zusammenhang, wenn berufliche oder Freizeitaktivitäten isoliert betrachtet wurden. Die Autoren führten auch eine Metaanalyse ihrer eigenen Studie mit 5 weiteren, früheren Studien durch. Dabei zeigte sich ein gepoolter Risikoquotient von 0,66, ein idiopathisches Parkinsonsyndrom zu entwickeln, für die höchste im Vergleich zur niedrigsten körperlichen Aktivität.

Fazit für die Praxis F Lebensstilfaktoren sollten bereits im mittleren Lebensabschnitt adressiert werden. F Ob eine Modifikation nach bereits klinisch manifesten Symptomen bei Patienten mit milder kognitiver Beeinträchtigung oder manifester Alzheimer-Demenz Einfluss auf den klinischen Verlauf der Erkrankung hat, ist umstritten. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass die ersten pathologischen Veränderungen der Alzheimer-Krankheit bereits über 2 Jahrzehnte vor der klinischen Diagnose auftreten und spätere Interventionen zu spät kommen. F Zu raten ist insbesondere zu reger körperlicher und geistiger Aktivität, sozialen Kontakten, aktiver Wahrnehmung von Hobbys, Herstellung eines ausreichenden und unfraktionierten Schlafs sowie Behandlung eines arteriellen Hypertonus.

Korrespondenzadresse Prof. Dr. J.B. Schulz Neurologische Klinik, RWTH Aachen Pauwelsstr. 30, 52074 Aachen [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  J.B. Schulz und G. Deuschl geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

Literatur   1. Plassman BL, Williams JW, Burke JR et al (2010) Systematic review: factors associated with risk for and possible prevention of cognitive decline in later life. Ann Intern Med 153(3):182   2. Manton KC, Gu XL, Ukraintseva SV (2005) Declining prevalence of dementia in the U.S. elderly population. Adv Gerontol 16:30–37   3. Langa KM, Larson EB, Karlawish JH et al (2008) Trends in the prevalence and mortality of cognitive impairment in the United States: is there evidence of a compression of cognitive morbidity? Alzheimers Dement 4(2):134–144   4. Schrijvers EM, Verhaaren BF, Koudstaal PJ et al (2012) Is dementia incidence declining?: Trends in dementia incidence since 1990 in the Rotterdam Study. Neurology 78(19):1456–1463   5. Qiu C, Strauss E von, Bäckman L et al (2013) Twenty-year changes in dementia occurrence suggest decreasing incidence in central Stockholm, Sweden. Neurology 80(20):1888–1894   6. Matthews FE, Arthur A, Barnes LE et al (2013) A two-decade comparison of prevalence of dementia in individuals aged 65 years and older from three geographical areas of England: results of the Cognitive Function and Ageing Study I and II. Lancet 382(9902):1405–1412   7. Rebok GW, Ball K, Guey LT et al (2014) Ten-year   effects of the advanced cognitive training for independent and vital elderly cognitive training   trial on cognition and everyday functioning in older adults. J Am Geriatr Soc 62(1):16–24   8. Jack CR, Knopman DS, Jagust WJ et al (2010) Hypothetical model of dynamic biomarkers of the Alzheimer’s pathological cascade. Lancet Neurol 9(1):119–128   9. Vemuri P, Lesnick TG, Przybelski SA et al (2012) Effect of lifestyle activities on Alzheimer disease biomarkers and cognition. Ann Neurol 72(5):730–738 10. Reiner M, Niermann C, Jekauc D, Woll A (2013) Long-term health benefits of physical activity – a systematic review of longitudinal studies. BMC Public Health 13:813 11. Abbott RD, White LR, Ross GW et al (2004) Walking and dementia in physically capable elderly men. JAMA 292(12):1447–1453 12. Voss MW, Vivar C, Kramer AF, Praag H van (2013) Bridging animal and human models of exercise-  induced brain plasticity. Trends Cogn Sci 17(10):525–544 13. Tolppanen AM, Ngandu T, Kåreholt I et al (2014) Midlife and late-life body mass index and late-life dementia: results from a prospective populationbased cohort. J Alzheimers Dis 38(1):201–209 14. Qizilbash N, Gregson J, Johnson ME et al (2015) BMI and risk of dementia in two million people over two decades: a retrospective cohort study. Lancet Diabetes Endocrinol 3(6):431–436 15. Hahn EA, Wang HX, Andel R, Fratiglioni L (2014) A change in sleep pattern may predict Alzheimer   disease. Am J Geriatr Psychiatry 22(11):1262–1271 16. Spira AP, Gamaldo AA, An Y et al (2013) Self-reported sleep and beta-amyloid deposition in community-dwelling older adults. JAMA Neurol 70(12):1537–1543 17. Kang JE, Lim MM, Bateman RJ et al (2009) Amyloid-beta dynamics are regulated by orexin and the sleep-wake cycle. Science 326(5955):1005– 1007 18. Qiu C, Winblad B, Fratiglioni L (2005) The age-dependent relation of blood pressure to cognitive function and dementia. Lancet Neurol 4(8):487– 499

19. Yasar S, Xia J, Yao W et al (2013) Antihypertensive drugs decrease risk of Alzheimer disease: Ginkgo Evaluation of Memory Study. Neurology 81(10):896–903 20. Wolozin B, Kellman W, Ruosseau P et al (2000) Decreased prevalence of Alzheimer disease associated with 3-hydroxy-3-methyglutaryl coenzyme A reductase inhibitors. Arch Neurol 57(10):1439– 1443 21. Jick H, Zornberg GL, Jick SS et al (2000) Statins and the risk of dementia. Lancet 356(9242):1627–1631 22. Cramer C, Haan MN, Galea S et al (2008) Use of statins and incidence of dementia and cognitive impairment without dementia in a cohort study. Neurology 71(5):344–350 23. Li G, Larson EB, Sonnen JA et al (2007) Statin therapy is associated with reduced neuropathologic changes of Alzheimer disease. Neurology 69(9):878–885 24. Wolozin B, Wang SW, Li NC et al (2007) Simvastatin is associated with a reduced incidence of dementia and Parkinson’s disease. BMC Med 5:20 25. Simons M, Schwarzler F, Lutjohann D et al (2002) Treatment with simvastatin in normocholesterolemic patients with Alzheimer’s disease: a 26-week randomized, placebo-controlled, double-blind   trial. Ann Neurol 52(3):346–350 26. Feldman HH, Doody RS, Kivipelto M et al (2010) Randomized controlled trial of atorvastatin in mild to moderate Alzheimer disease: LEADe. Neurology 74(12):956–964 27. Yang F, Trolle Lagerros Y, Bellocco R et al (2015) Physical activity and risk of Parkinson’s disease in the Swedish National March Cohort. Brain 138(2):269– 275

Der Nervenarzt 8 · 2015 

| 959

[Influence of lifestyle on neurodegenerative diseases].

Lifestyle factors in midlife have an important influence on the risk of developing a neurodegenerative disease during later life. Data on lifestyle fa...
282KB Sizes 0 Downloads 17 Views