Übersicht
Nationales Zweitmeinungsnetzwerk Hodentumoren – ein System zum Evidenztransfer! National Second Opinion Network for Testicular Cancer Patients – Transferring Guidelines into Practice!
Autoren
F. Zengerling1, S. Krege2, A. J. Schrader3, M. Schrader1
Institute
1
Schlüsselwörter ▶ Hodentumor ● ▶ Zweitmeinung ● ▶ Internetplattform ● ▶ Übertherapie ● ▶ Therapieleitlinien ●
Zusammenfassung
Abstract
Das Zweitmeinungsprojekt testikuläre Keim zelltumoren ist eine internetbasierte Plattorm, welche sich an Primärbehandler von Hodentu morpatienten richtet. Sie ermöglicht die Ein holung einer Zweitmeinung vor der weiteren Therapiefestlegung nach Orchiektomie und Durchführung der Ausbreitungsdiagnostik. Die Plattform wurde mittlerweile mehr als 3 000 Mal in Anspruch genommen. Die zahlreichen Diskre panzen von Erst- und Zweitmeinung in mehr als 30 % der Fälle sprechen für ein bestehendes Defi zit bei der Umsetzung von publizierten Thera pieleitlinien. Die Zweitmeinungsplattform ist nach der aktuellen Zwischenbilanz in der Lage, Übertherapie bei Hodentumorpatienten zu redu zieren. Die hohe Akzeptanz des Projektes und die ermutigenden Daten der Zwischenbilanz geben Anlass zu Überlegungen, das Zweitmeinungs netzwerk-Modell auch auf andere Erkrankungen, w. z. B. das Peniskarzinom, zu übertragen.
The second opinion network for testicular cancer is an internet-based platform addressed to physi cians treating testicular cancer patients. They are offered a second opinion before determining further therapy after orchiectomy and comple tion of staging procedures. The platform has been used in more than 3 000 cases of testicular cancer to date. The rate of discrepancies between first and second opinions is higher than 30 %. This sug gests a deficit in the implementation of published therapy guidelines. A ccording to our present inte rim analysis, the second opinion platform helps in avoiding overtreatment of testicular cancer. The high acceptance of the project and the en couraging results of this interim analysis open the door for expansion of the second opinion mo del to other diseases, e. g., penile carcinoma.
Key words ▶ testicular cancer ● ▶ second opinion ● ▶ internet platform ● ▶ overtreatment ● ▶ therapy guidelines ●
Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1395624 Akt Urol 2014; 45: 454–456 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 0001-7868 Korrespondenzadresse Dr. med. Friedemann Zengerling Klinik für Urologie Universitätsklinikum Ulm Prittwitzstraße 43 89075 Ulm Tel.: + 49/731/500 58000 Fax: + 49/731/500 58002 friedemann.zengerling@ uniklinik-ulm.de
Urologische Klinik, Universitätsklinik Ulm Urologische Klinik, Maria Hilf Krankenhaus Krefeld 3 Urologische Klinik, Universitätsklinikum Münster 2
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Autoren stellvertretend für die GTCSG (German Testicular Cancer Study Group), gefördert durch die Deutsche Krebshilfe e. V.
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Einleitung
Klinische Studien: Diese haben — unserer Ein schätzung nach — die Behandlungsergebnisse nur geringfügig verbessert. Das ist u. a. darauf zu rückzuführen, dass nur ein Bruchteil der Patien ten mit Keimzelltumoren im Rahmen von Thera piestudien behandelt wurden [1].
Die Datenlage zur Versorgungsqualität bei Keim zelltumoren in Deutschland ist, ebenso wie beim Prostatakarzinom, stark eingeschränkt. Zur Leit linienkonformität der Behandlung dieser Tumo rerkrankungen liegen bisher keinerlei systema tisch erhobene Daten vor. Hinsichtlich der Mor talitätsrate unterstützen epidemiologische Daten die Vermutung, dass die Versorgungsqualität regional verbesserbar ist. Ansätze zur Verbesserung der Versorgungsquali tät waren in der Vergangenheit:
Evidenzbasierte Behandlungsleitlinien: Die interdisziplinär erstellten, erstmals 1997 publi zierten Leitlinien blieben unseres Erachtens auf grund fehlender flächendeckender Implementie rung „Papiertiger“ und verbesserten die Versor gungsergebnisse nur punktuell [2, 3]. Zur erfolgreichen Implementierung von Leitlinien und Studienergebnissen in die klinische Praxis sind neben ihrer bloßen Veröffentlichung offen sichtlich weitere gezielte Strategien notwendig. Aus diesem Grund wurde im Jahr 2006 von der
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Zengerling F et al. Nationales Zweitmeinungsnetzwerk Hodentumoren … Akt Urol 2014; 45: 454–456
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Übersicht
Ablatio testis, Staging Urologe/Arzt
Erstmeinung Urologe/Arzt
1
Zweitmeinung Zweitmeinungs-zentrum
Interaktive Zweitmeinungsplattform
2
Therapie Urologe/Arzt
Follow-up Urologe/Arzt
3 nach 3 Monaten
455
Abb. 1 Systemablauf des Nationalen Zweitmeinungsprojektes Hodentumoren.
4 nach 2 Jahren
≤ 48 h Datenzentrum Datenerfassung
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Der Systemablauf des Zweitmeinungsprojektes gestaltet sich fol gendermaßen: Nach einmaliger Nutzerregistrierung auf http:// www.zm-hodentumor.de, die ohne Zeitverzögerung oder Ein schränkung für jeden Urologen möglich ist, erfolgt eine Anony ▶ Abb. 1). misierung der Patientendaten ( ● Anschließend kann der klinische Primärdatensatz zu dem jewei ligen Patienten online in eine Datenmaske eingeben werden. Dieser Datensatz ist auf 21 für die Therapieentscheidung rele vante Datenfelder minimiert. Der Nutzer hat hiernach die Mög lichkeit, eines von aktuell 32 Zweitmeinungszentren zu selektie ren und die Anfrage an das gewählte Zentrum zu senden [1]. Der Arzt des jeweiligen Zweitmeinungszentrums gibt daraufhin eine Therapieempfehlung ab [2]. Das Projekt wird von einem Datenzentrum begleitet, welches 3 Monate nach Anfrage an ein Zweitmeinungszentrum recher chiert, welche Therapie schlussendlich erfolgte [3, 4]. Durch das Datenzentrum wird zudem 2 Jahre nach Zweitmeinungsanfrage ein Follow-up durchgeführt. Durch ein Audit erfolgt in regelmä ßigen Abständen eine Kontrolle der Leitlinienkonformität von Zweitmeinungsempfehlungen. Als Messpunkte für den Effekt des Projektes bzw. die Versor gungsqualität wurden in der aktuellen Zwischenauswertung bestimmt: ▶ geplante Therapie des Anfragenden („Erstmeinung“) vs. Therapieempfehlung des Zweitmeinungszentrums („Zweitmeinung“), ▶ rezidiv- bzw. progressionsfreier Verlauf.
Ergebnisse
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Die letzte Zwischenbilanz des Zweitmeinungsprojektes, wie sie im Februar 2014 auf dem 31. Deutschen Krebskongress präsen tiert wurde, schloss insgesamt 2 515 der bis dato über 3 100
600
600 500 400 300
443
460
2011
2012
499
338 212
200 100 0
2009
2010
2013
2014 (Progn.)
Abb. 2 Nutzungsgrad des Nationalen Zweitmeinungsprojektes Hodentumoren.
Zweitmeinungsanfragen (Stand 07/2014) ein. Ein Vergleich mit den Krebsregisterdaten des Robert-Koch-Institutes zeigt, dass bei durchschnittlich 425 Zweitmeinungsanfragen/Jahr und 3 900 Neuerkrankungen/Jahr in etwa jeder zehnte Hodentumorpa tient in Deutschland im Rahmen des Zweitmeinungsprojektes ▶ Abb. 2). Im Vergleich zu populationsbezoge vorgestellt wird ( ● nen Daten sind Nicht-Seminome (47,1 %) im Vergleich zu Semi nomen (47,8 %) leicht überrepräsentiert. Gleiches gilt für meta stasierte Stadien im Vergleich zum lokalisierten Stadium (klini sches Stadium I: 58,6 % vs. klinisches Stadium II–III: 37,3 %). Die 2 515 Zweitmeinungsanfragen wurden von insgesamt 536 verschiedenen Ärzten angefragt. Die Rücklaufquote für die Thera pieangaben betrug 76,5 % (1 328/1 737) und 71,9 % (575/800) für das 2-Jahres-Follow-up. Laut einer Ende 2012 durchgeführten Umfrage unter Anwendern der Zweitmeinungsplattform zeigte sich, dass fast die Hälfte der Primärbehandler niedergelassene Urologen sind, in etwa ein Viertel als Oberarzt und 13 % bzw.10 % als Chef- oder Assisenzarzt sind an einer Klinik tätig [5]. Die Auswertung der Therapievorschläge ergab in 31,5 % der Fälle eine Diskrepanz zwischen Erstmeinung und Zweitmeinung. Es zeigte sich unabhängig von der Tumorhistologie ein signifikant erhöhter Prozentsatz diskrepanter Empfehlungen bei zuneh