Kasuistiken HNO 2013 DOI 10.1007/s00106-013-2782-4 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

J.-F. Vogt1 · G.A. Krombach2 · C. Wittekindt1 · J.P. Klussmann1 · D. Wittekindt3 1 Hals-Nasen-Ohren-Klinik und Kopf- und Halschirurgie, Universitätsklinikum Gießen 2 Klinik für Diagnostische und Interventionelle Radiologie, Universitätsklinikum Gießen 3 Klinik für Anästhesie und Operative Intensivmedizin, Universitätsklinikum Gießen

Pulmonales Negativdrucködem nach Abszesstonsillektomie

Ein 19-jähriger Mann stellte sich mit seit 3 Tagen bestehenden, bislang nicht therapierten Halsschmerzen vor. Es bestand eine Dysphagie mit ausgeprägtem Schluckschmerz und einer Kieferklemme. Die Fragen nach Vorerkrankungen und Allergien wurden verneint, in der Kindheit hatte bereits eine Adenotomie stattgefunden.

genbild des Thorax zeigte sich das Bild eines alveolären Lungenödems mit wolkigen Verschattungen (. Abb. 1). Der Patient erhielt eine nichtinvasive Therapie mit CPAP („continuous positive airway pressure“) und 6 l O2/min. Im Verlauf zeigte sich eine Reduktion des Ödems ohne Notwendigkeit der Gabe von Diuretika (. Abb. 2). Nach 2,5 Tagen konnte der Patient mit einer peripheren Sättigung von 95% bei Raumluft auf die periphere HNO-Station verlegt und weitere 5 Tage später entlassen werden.

Klinischer Befund

Diskussion

Enoral zeigte sich eine Vorwölbung des rechten Gaumenbogens mit geröteter, glasig-ödematöser Schleimhaut, die Tonsillen zeigten sich vergrößert und hochrot. Die übrigen HNO-Spiegelbefunde waren unauffällig.

Im hier dargestellten Fall kam es bei einem gesunden, jungen Mann mit komplikationsloser Allgemeinnarkose post extubationem zu einem akuten Lungenödem, welches einer Überwachung und Versorgung auf einer OIMC bedurfte. Differen-

zialdiagnostisch wurden eine kardiale Ursache, allergisch-toxische Reaktionen oder eine perioperative Volumenüberlastung ausgeschlossen. Durch den direkten zeitlichen Zusammenhang zur Extubation wurde ein durch Laryngospasmus ausgelöstes NPPE („negative pressure pulmonary edema“) diagnostiziert. Das NPPE oder pulmonale Negativdrucködem ist ein unvorhersehbares und lebensbedrohliches postoperatives Krankheitsbild, welches durch respiratorische Insuffizienz mit Dyspnoe und Tachypnoe gekennzeichnet ist. In mehr als 50% der Fälle von NPPE wurde ein Laryngospasmus bei Extubation vermutet, oder es bestand eine Raumforderung des Larynx und Pharynx. Es wird über eine Inzidenz von 1 pro 1000 Vollnarkosen berichtet, die HNO-Heilkunde ist mit geschätzt einem Drittel der beschriebenen Fälle die mit Abstand am stärksten betroffene Fach-

Abb. 1 8 Thoraxröntgenaufnahme a.-p. Ausgeprägtes, zentral betontes, fleckiges Lungenödem bei regelrechter Herzgröße. Kein Nachweis eines Pleuraergusses

Abb. 2 8 Thoraxröntgenaufnahme a.-p., 3 Tage nach der in Abb. 1 gezeigten Aufnahme angefertigt. Deutliche Rückbildung des zentral betonten Lungenödems

Fallbericht Anamnese

Therapie und Verlauf Nach initial erfolgter Punctio sicca wurde am selben Abend eine Abszesstonsillektomie rechts und Tonsillektomie links in ereignisloser Intubationsnarkose durchgeführt. Der Patient entwickelte wenige Minuten nach Extubation eine Tachypnoe mit pulsoxymetrischen Werten ohne Sauerstoffversorgung um 85%. Bei ausbleibender Besserung nach Naloxongabe wurde der Patient zur weiteren Versorgung auf die operative IntermediateCare(OIMC)-Station verlegt. Im Rönt-

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Kasuistiken Tab. 1  Symptome und Diagnostik des

NPPE Dyspnoe, Tachypnoe Stridor Paradoxe Atmung Rötlich-schaumiges Trachealsekret Auskultatorisch grobblasige Rasselgeräusche Röntgen Thorax a.-p.: manifestes Lungenödem unilateral/bilateral Ausschluss kardiogener Ursachen (EKG, Blutdruck) Periphere Sauerstoffsättigung 6 l/min Tab. 2  Risikofaktoren des NPPE Obstruktives Schlafapnoe-Syndrom (OSAS) Starkes Schnarchen Obstruktive Lungenerkrankungen Männliches Geschlecht Adipositas Schwierige Intubation bei vorangegangenen Narkosen

richtung [1]. Das Durchschnittsalter liegt bei 32±19 Jahren, das Patientengut ist, wie in unserem Fall, überwiegend männlich [1, 2]. In der Mehrheit der Fälle treten die Symptome innerhalb von 5 min nach Extubation auf („rapid onset“). Es wurden jedoch Fälle beschrieben, bei denen sich erst nach bis zu 5 h oder auch nach mehr als 12 h erste Symptome des postoperativen Lungenödems entwickelten [3]. Zu diesem Zeitpunkt ist der Patient i. d. R. auf einer peripheren HNO-Station, und die typischen klinischen Symptome müssen vom behandelnden Arzt erkannt (. Tab. 1) und notwendige Therapiemaßnahmen rasch eingeleitet werden. Die Diagnose wird klinisch gestellt, differenzialdiagnostisch sind immer eine kardiale Ursache, allergisch-toxische Reaktionen oder eine perioperative Volumenüberlastung auszuschließen [2]. Ein konventionelles Röntgenbild des Thorax zeigt meist wolkige oder mosaikartige, alveoläre Verdichtungen. Die Therapie des NPPE besteht in einer sofortigen Zufuhr von Sauerstoff. Ein Monitoring mit CPAP-Therapie auf einer Überwachungsstation oder Intensivstation ist oft ausreichend, bei unzureichender Oxygenierung ist jedoch eine Reintubation erforderlich. Da es bei einem pulmonalen Negativdrucködem zu einer Verschiebung des intravasalen Volumens

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Zusammenfassung · Abstract kommt und keine eigentliche Hypervolämie besteht, sind Diuretika meist nicht notwendig [1]. Durch rasche Diagnosestellung und Einleitung der notwendigen therapeutischen Maßnahmen ist der Verlauf meist komplikationslos. Als mögliche Komplikation bei unzureichender Therapie können z. B. eine Hypoxämie mit akuter respiratorischer Insuffizienz, eine Stauungspneumonie, Kammerflimmern oder ein gar ein kardiogener Schock entstehen. Pathophysiologisch basiert die Mehrheit der beschriebenen Fälle, wie in unserem Fall, auf einer akuten Obstruktion der oberen Atemwege (Typ I). Durch eine Obstruktion der oberen Atemwege während forcierter Inspiration können extrem negative intrathorakale Drücke von bis zu −130 cm H2O entstehen. Hierdurch kommt es durch den gesteigerten venösen intrathorakalen Rückstrom zu einer Erhöhung des pulmonalen Blutvolumens und der kardialen Vorlast mit Dehnung des rechten Ventrikels, daraus resultierender Veränderung der linksventrikulären Compliance und damit zu progredienter Zunahme des pulmonalen Blutvolumens [1, 4]. Der erhöhte pulmonalkapilläre Druck führt zu einer überschießenden Transsudation von Flüssigkeit in die Alveolen. Zudem bewirkt der Euler-Liljestrand-Mechanismus (hypoxisch-pulmonale Vasokonstriktion) eine Unterhaltung und Weiterentwicklung des alveolären Ödems durch weitere Zunahme des Blutvolumens in den noch besser ventilierten Gebieten. Darüber hinaus gaben Tierversuche einen Hinweis auf eine Schädigung der alveolokapillären Membran bei NPPE, worauf das vielfach beobachtete blutig-schaumige Trachealsekret zurückzuführen sein kann [5]. Eine geringere Anzahl entwickelt sich nach operativer Entlastung einer chronischen Obstruktion der oberen Atemwege (Typ II), z. B. bei einer chronischen Tonsillen- und/oder Adenoidhyperplasie sowie Tumoren im Larynx oder Pharynx. Pathophysiologisch kommt es bei einem Typ-II-NPPE durch eine chronische Atemwegsverlegung zu einem verminderten expiratorischen Tidalvolumen, welches zu einem intrinsischen PEEP („positive end-expiratory pressure“) und damit zu einer intrathorakalen Drucker-

HNO 2013 · [jvn]:[afp]–[alp] DOI 10.1007/s00106-013-2782-4 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013 J.-F. Vogt · G.A. Krombach · C. Wittekindt · J.P. Klussmann · D. Wittekindt

Pulmonales Negativdrucködem nach Abszesstonsillektomie

Zusammenfassung Wir berichten über einen 19-jährigen Patienten, welcher nach Abszesstonsillektomie ein pulmonales Negativdrucködem mit respiratorischer Insuffizienz entwickelte. Das pulmonale Negativdrucködem („negative pressure pulmonary edema“ – NPPE) ist ein unvorhersehbares und lebensbedrohliches postoperatives Krankheitsbild, welches durch respiratorische Insuffizienz gekennzeichnet ist und unmittelbar nach Extubation oder in der postoperativen Phase auftritt. Häufig wird ein NPPE bei Laryngospasmus sowie Raumforderungen des Larynx und Pharynx beobachtet. Die Therapie besteht in einer sofortigen Sauerstoffzufuhr, nichtinvasiver Therapie mit CPAP („continuous positive airway pressure“) oder Reintubation. Schlüsselwörter Pulmonales Negativdrucködem · Larynx · Abszesstonsillektomie · Dyspnoe · Laryngospasmus

Negative pressure pulmonary edema after peritonsillar abscess tonsillectomy Abstract We report on a 19-year-old patient who developed negative pressure pulmonary edema (NPPE) with respiratory insufficiency following abscess tonsillectomy. NPPE is an unpredictable and life-threatening postoperative complication characterized by respiratory insufficiency. It may arise immediately after extubation or later in the postoperative period. NPPE is frequently observed after laryngospasm or in combination with space-occupying lesions in the pharynx and larynx. Treatment comprises the immediate correction of hypoxemia, preferably by noninvasive respiratory support using continuous positive airway pressure (CPAP), although in some cases reintubation is necessary. Keywords Negative pressure pulmonary edema · Larynx · Abscess tonsillectomy · Dyspnea · Laryngospasm

höhung führt. Entlastet man nun operativ die Atemwege, kommt es zu einer abrupten Reduktion des intrinsinschen PEEP und damit zu einer Erhöhung des intrathorakalen venösen Rückstroms. Die dadurch resultierende intrathorakale Zunahme des Blutvolumens führt wiederum zu einer vermehrten Transsudation von Flüssigkeit in die Alveolen [1]. Nicht nur eine diagnostizierte obstruktive Schlafapnoe, sondern auch anamnestisch starkes Schnarchen sind als Risikofaktor für die postoperative Entwicklung eines NPPE bekannt (. Tab. 2, [2]). In der Aufwachphase nach einer Intubationsnarkose können die bei diesen Patienten bestehenden Hyperplasien im Oro- und Nasopharynxbereich sowie der oft schlaffe Tonus im Rachen zu einem Kollaps der oberen Luftwege führen und so eine akute Obstruktion hervorrufen.

Literatur 1. Alb M et al (2006) Negative pressure pulmonary edema (NPPE). Anasthesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 41:64–78 2. Osmer C et al (2000) Schnarchen und postoperatives Lungenödem. Anasthesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 35:177–180 3. Tami TA et al (1986) Pulmonary edema and acute upper airway obstruction. Laryngoscope 96:506– 509 4. Timby J, Reed C, Zeilender S, Glauser FL (1990) „Mechanical“ causes of pulmonary edema. Chest 98:973–979 5. West J, Tsukimoto K, Mathieu-Costello O, Prediletto R (1991) Stress failure in pumonary capillaries. J Appl Physiol 70:1731–1742

Fazit für die Praxis Das Erkennen der Symptome eines pulmonalen Negativdrucködems auch bei verzögertem Eintritt und Einleitung adäquater Therapiemaßnahmen sind für den Therapierfolg essenziell. Die wichtigsten Differenzialdiagnosen wie kardiale Dekompensation, Anaphylaxie und perioperative Volumenüberlastung müssen ausgeschlossen werden. Unter Sauerstoffversorgung ist eine intensivmedizinische Überwachung oder Reintubation zu veranlassen. Im Vorfeld ist eine Anamnese bezüglich Risikofaktoren hilfreich.

Korrespondenzadresse J.-F. Vogt Hals-Nasen-Ohren-Klinik und Kopf- und Halschirurgie, Universitätsklinikum Gießen Klinikstr. 33, 35392 Gießen [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  J.F. Vogt, G.A. Krombach, C. Wittekindt, J.P. Klussmann und D. Wittekindt geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

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[Negative pressure pulmonary edema after peritonsillar abscess tonsillectomy].

We report on a 19-year-old patient who developed negative pressure pulmonary edema (NPPE) with respiratory insufficiency following abscess tonsillecto...
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