Übersichten Z Gerontol Geriat DOI 10.1007/s00391-016-1027-z Eingegangen: 19. Oktober 2015 Überarbeitet: 28. Dezember 2015 Angenommen: 13. Januar 2016

Philipp Bahrmann1 · Fred Harms2 · Christian Martin Schambeck3 · Martin Wehling4 · Jürgen Flohr5

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

3 Hämostatikum, München, Deutschland

1 Institut für Biomedizin des Alterns, Friedrich-Alexander-Universität

Erlangen-Nürnberg, Nürnberg, Deutschland 2 European Health Care Foundation, Zug, Schweiz

4 Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie und Toxikologie, Medizinische

Fakultät Mannheim, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg, Deutschland 5 Allgemeinmedizinische Gemeinschaftspraxis, Leipzig, Deutschland

Neue orale Antikoagulanzien zur Prophylaxe von Schlaganfällen Ergebnis einer Expertenkonferenz zum praktischen Einsatz bei geriatrischen Patienten

Durch die demografische Entwicklung steigt der Anteil von Patienten in hohem Alter stetig an. Diese Patienten stellen wegen ihrer zahlreichen Komorbiditäten und der oft erforderlichen Polymedikation bei gleichzeitig stark eingeschränkter physiologischer und mentaler Reservekapazität für den behandelnden Arzt eine Herausforderung dar.

Zielsetzung der Expertenkonferenz Ein Expertengremium hatte erstmalig im September 2013 die Evidenz zur Schlaganfallprävention bei geriatrischen Patienten mit Vorhofflimmern (VHF) systematisch zusammengetragen, im Hinblick auf die Vorgehensweise in der klinischen Praxis bewertet und einen Algorithmus für die Antikoagulation geriatrischer Patienten entwickelt (.   Abb.  1; [3]). Bei einer Folgeveranstaltung am 29.10.2014 kam die Gruppe – in leicht veränderter Besetzung – erneut zusammen und diskutierte die aktuelle Situation. Beteiligt waren ein Internist/Kardiologe mit Zusatzbezeichnung Geriatrie (P. Bahrmann), ein klinischer Pharmakologe mit Schwer-

punkt Alterspharmakologie (M. Wehling), ein praktischer Arzt, der mit einer geriatrischen Schwerpunktpraxis innerhalb eines zertifizierten Ärztenetzwerks verbindlich kooperiert (J. Flohr), ein niedergelassener Hämostaseologe (C.M. Schambeck) und ein Gesundheitsmanager mit Schwerpunkt altersgerechte Arzneimitteltherapie (F. Harms). Als Format für die Veranstaltung wurden Fachvorträge mit anschließender Konsensusdiskussion gewählt. Im Fokus der Diskussion stand die Schlaganfallprophylaxe bei geriatrischen Patienten mit VHF. Der vorliegende Beitrag fasst die Ergebnisse der Diskussion dieser interdisziplinären Gruppe zusammen. Zwischenzeitlich haben auch andere Experten das Thema beleuchtet [26, 63]. Der geriatrische Patient wurde in Übereinstimmung mit den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) und anderen internationalen Vereinigungen als eine Person im Alter von mindestens 80 Jahren (unabhängig vom Gesundheitszustand) oder als eine Person in fortgeschrittenem Alter (v. a. ab 70 Jahren) mit der für geriatrische Patienten typischen Multimorbidität definiert [16].

Bedeutung des Vorhofflimmerns bei geriatrischen Patienten Vorhofflimmern ist die häufigste Herzrhythmusstörung im klinischen Alltag und weist eine zunehmende Bedeutung auf: Über die Jahre hinweg zeigt sich eine stetige Zunahme der VHF-Prävalenz, unabhängig von Geschlecht oder Altersgruppe der Betroffenen [53]. Aktuelle Schätzungen von Ohlmeier et al. auf der Grundlage von Krankenkassendaten, basierend auf 800.000 Personen, zeigten eine Prävalenz von 5,1 % bei den 65- bis 69-Jährigen, ansteigend auf 19,7 % bei den 85- bis 89-Jährigen [53]. In einer weiteren Studie von Wilke et al. mit Daten von 8 Mio. Versicherten, in der als Voraussetzung für das Vorliegen eines VHF eine Krankenhausdiagnose oder mehrfach bestätigte (z. B. in 2 Quartalen) ambulante Diagnosen erforderlich waren, wurde die Prävalenz etwas niedriger mit 4,8 % bei 65- bis 69-jährigen Patienten und mit 15,1 % bei den 85- bis 89-jährigen Patienten angegeben [74]. Patienten mit VHF tragen ein bis zu 5-fach erhöhtes Risiko für einen Schlaganfall, wobei das Risiko wiederum altersabhängig ansteigt [34]. Verschiedene Faktoren, die bei älteren Patienten häufig Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie

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Übersichten Indikation für die Antikoagulation mit VKA oder NOAK • Modifizierte Rankin-Skala 5 Punkte oder • Mini-Mental-Status-Test 0 bis 17 Punkte • Wiederholte schwere Stürze mit Verletzungen ohne bekannte Ursachea

• • •

Modifizierte Rankin-Skala 4 Punkte oder Mini-Mental-Status-Test 18 bis 24 Punkte Eignung vom Geriater abzuklären

Alle anderen Patienten

Abb. 1 8 Entscheidungsfindung für die Initiierung, Beibehaltung oder Terminierung einer Antikoagulation zur Prophylaxe von Schlaganfällen bei geriatrischen Patienten mit Vorhofflimmern. aAlle Patienten sollten zur weiteren Bewertung und Behandlung der Sturzursachen überwiesen werden. Patienten mit einem CHA2DS2-VASc-Score ≥ 2 sollten selbst bei hohem Sturzrisiko eine Antikoagulation erhalten. Wenn sowohl das Risiko für Blutungen als auch das für Schlaganfälle hoch ist, scheinen alle 4 neuen oralen Antikoagulanzien (NOAK) einen größeren klinischen Nettonutzen zu haben als Warfarin. Die Medikation sollte bei stabilen Patienten in regelmäßigen Abständen (etwa alle 6 Monate) hinsichtlich der Indikationsstellung überprüft werden. Dies gilt ebenfalls bei akuten Verschlechterungen des Patienten. VKA Vitamin-K-Antagonist. (Bahrmann et al. [3])

vorkommen, erhöhen das Risiko weiter. In der Gruppe der 80- bis 89-jährigen Patienten sind etwa ein Viertel aller Schlaganfälle auf VHF zurückzuführen [23]. Auf VHF basierende Schlaganfälle sind hinsichtlich Ausdehnung der Ischämie und resultierender Funktionseinschränkung schwerer als diejenigen, die anderweitig bedingt oder idiopathisch sind [41]. Die Indikationsstellung für eine dauerhafte Antikoagulation bei geriatrischen Patienten folgt im Wesentlichen der VHFLeitlinie, z. B. der der European Society for Cardiology (ESC, [5, 6]). Diese empfehlen zur Quantifizierung des jährlichen Schlaganfallrisikos den CHA 2DS 2-VASc-Score und zur Bewertung des Blutungsrisikos den HASBLED-Score (Infobox 1, Infobox 2 [44]). Die Risikofaktoren in beiden Scores überschneiden sich weitgehend, d. h., Patienten mit hohem Schlaganfallrisiko haben auch ein hohes Blutungsrisiko. Dennoch können durch die Beseitigung von Risikofaktoren [z. B. Gabe von Antihypertensiva oder Absetzen von Medikamenten, die Blutungen begünstigen, wie beispielsweise Acetylsalicylsäure (ASS) oder „non-steroidal anti-inflammatory drugs“, NSAID) der HAS-BLED-Wert und dadurch das Blutungsrisiko bei älteren Patienten mit VHF reduziert werden.

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Bereits aufgrund des Alterskriteriums, bei Frauen noch verstärkt durch ihr geschlechtsspezifisches Risiko, besteht bei älteren Patienten eine Indikation für eine dauerhafte orale Antikoagulation. Entsprechend der ESC-Leitlinie sollten Patienten mit valvulärem VHF mit Vitamin-K-Antagonisten (VKA) behandelt werden, während bei Patienten mit dem viel häufigeren nichtvalvulärem VHF die Wahl zwischen VKA oder NOAK besteht. Aus der Gruppe der VKA werden in Deutschland nahezu ausschließlich Phenprocoumon (ca. 98 %) und nur selten Warfarin verschrieben [62]. Bei den VKA stellen die regelmäßig erforderliche Kontrolle der International Normalized Ratio (INR), die oftmals starke Schwankung des Wirkspiegels aufgrund von Nahrungseinfluss, Medikamenteninteraktionen oder vorübergehender Änderungen der Nierenfunktion häufig Probleme im täglichen Management der Patienten dar. Bei älteren Patienten kommen oft Visusprobleme, funktionelle Einschränkungen und beginnende Demenz komplizierend hinzu. Der enge therapeutische VKABereich birgt ein beträchtliches Risiko für Blutungen, v. a. bei geriatrischen Patienten [50]. Die Zielwerterreichung (INR-Werte zwischen 2 und 3) ist in der Langzeittherapie wohl aufgrund der

schlechten Steuerbarkeit der VKA eingeschränkt. Im RE-LY Atrial Fibrillation Registry, das VHF-Patienten in der Notaufnahme von Krankenhäusern untersuchte, betrug die durchschnittliche Zeit im therapeutischen Zielbereich (TTR) in den westeuropäischen Ländern nur 62,4 %, in anderen Ländern, einschließlich den USA, noch deutlich darunter [54]. Zusammengefasst ist die Therapie mit VKA schwierig und wird von den Patienten oftmals nicht akzeptiert, was zu einer substanziellen Untertherapie der Patienten führt [12]. Unter den NOAK stehen derzeit 3 Substanzen zur Verfügung, der selektive Thrombinhemmer Dabigatran sowie die selektiven direkten Faktor-Xa-Hemmer Rivaroxaban und Apixaban. Diese Substanzen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer pharmakokinetischen Parameter, den Dosierungs- und Einnahmemodalitäten sowie der Eliminationswege (. Tab. 1). Die NOAK sind den VKA in der Wirkung (Verhinderung von Schlaganfällen und anderen thrombembolischen Ereignissen) und auch hinsichtlich des Blutungsrisikos nicht unterlegen oder sogar überlegen [9, 25, 55]. Die aktuell veröffentlichte VHF-Leitlinie der American Heart Association (AHA) betont, dass jedes einzelne NOAK, verglichen mit VKA, ein niedrigeres Risiko für intrakranielle Blutungen aufweise – als stärksten Determinanten für die Langzeitsicherheit [47]. In einer Analyse von über 130.000 älteren Patienten mit VHF unter hausärztlicher Betreuung fanden sich unter Dabigatran in der 2-mal täglichen Dosierung von 150 mg im Vergleich zu Warfarin ein vermindertes Risiko für ischämischen Schlaganfall, intrakranielle Blutung und vorzeitigen Tod, aber auch ein erhöhtes Risiko für gastrointestinale Blutungen (in der 2-mal täglichen Dosierung von 75 mg lediglich vermindertes Risiko für intrakranielle Blutung, [24]). Aus klinischer Sicht werden als Nachteile der NOAK die renale Elimination (insbesondere bei Dabigatran), die kurze Halbwertszeit aller Substanzen (die allerdings auch eine bessere Steuerbarkeit der Medikation bedingt) und die der-

Zusammenfassung · Abstract Z Gerontol Geriat  DOI 10.1007/s00391-016-1027-z © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016 P. Bahrmann · F. Harms · C.M. Schambeck · M. Wehling · J. Flohr

Neue orale Antikoagulanzien zur Prophylaxe von Schlaganfällen. Ergebnis einer Expertenkonferenz zum praktischen Einsatz bei geriatrischen Patienten Zusammenfassung Geriatrische Patienten mit nichtvalvulärem Vorhofflimmern (VHF) erhalten zunehmend neue orale Antikoagulanzien (NOAK) zur Schlaganfallprophylaxe. Das vorliegende Manuskript berichtet die Ergebnisse einer Expertenrunde zum praktischen Einsatz der NOAK bei geriatrischen Patienten. Eine interdisziplinäre Expertengruppe diskutierte die aktuelle Situation der Schlaganfallprävention bei geriatrischen Patienten und ihr praktisches Management in der täglichen klinischen Praxis. Das Thema wurde durch gezielte Impulsreferate und kritische Analyse als Grundlage für den Expertenkonsens diskutiert. Die wichtigsten Aspekte sind in diesem Beitrag zusammengefasst.In der VHFLeitlinie der „European Society of Cardiology“ (ESC) werden für die Antikoagulation bei Patienten mit nichtvalvulärem VHF NOAK

bevorzugt und Vitamin-K-Antagonisten (VKA) als Alternative empfohlen. Momentan finden die Faktor-Xa-Inhibitoren Apixaban und Rivaroxaban und der Thrombininhibitor Dabigatran als NOAK bei VHF klinische Anwendung. Für diese Medikamente bestehen viele Gemeinsamkeiten, für die differenzierte Pharmakotherapie aber auch wichtige Unterschiede. Die NOAK haben bei geriatrischen Patienten eine Reihe von Vorteilen gegenüber den VKA, vorrangig durch das bessere Nutzen-Risiko-Verhältnis aufgrund einer verminderten Zahl von Blutungsereignissen, und ein insgesamt geringeres Risiko für Arzneimittelinteraktionen. Hervorzuheben ist auch die einfachere Handhabung der NOAK im Alltag (kein INR-Monitoring erforderlich und unkompliziertere Unterbrechungen der Therapie bei geplanten Interventionen).

Für geriatrische Patienten sollten vorzugsweise NOAK gewählt werden, die auch bei reduzierter Nierenfunktion eingesetzt werden können. Spiegelbestimmungen der NOAK werden zwar noch nicht flächendeckend angeboten, sind jedoch nicht mehr teuer und sollten bei Erfordernis (z. B. Adhärenzkontrolle bei Demenz) auch durch den niedergelassenen Arzt veranlasst werden. Eine regelmäßige Überprüfung der Indikationsstellung der NOAK (wie auch aller anderen Medikamente des Patienten) ist unabdingbar. Insgesamt sollten NOAK den hierfür geeigneten Patienten nicht vorenthalten werden. Schüsselwörter Schlaganfall · Prävention · Adhärenz · Ältere Patienten · Interdisziplinäres Management

New oral anticoagulants for prophylaxis of stroke. Results of an expert conference on practical use in geriatric patients Abstract Geriatric patients with non-valvular atrial fibrillation (AF) are increasingly being treated with novel oral anticoagulants (NOAC) to prevent ischemic stroke. This article highlights the outcome of an expert meeting on the practical use of NOAC in elderly patients. An interdisciplinary group of experts discussed the current situation of stroke prevention in geriatric patients and its practical management in daily clinical practice. The topic was examined through focused impulse presentations and critical analyses as the basis for the expert consensus. The key issues are summarized in this paper. The European Society of Cardiology (ESC) guidelines from 2012 for the management of patients with non-val-

zeitige Nichtverfügbarkeit spezifischer Antidota (wie bei den VKA) genannt [32]. Aktuelle Daten des PREFER in AFRegisters zeigen, dass NOAK derzeit v. a. bei jüngeren Patienten mit niedrigem Risiko verordnet werden [39]. Die absolute Risikoreduzierung ist allerdings bei älteren Patienten aufgrund deren höherem absoluten Schlaganfallrisiko größer als bei jüngeren Patienten. Basierend auf den verfügbaren Daten und den praktischen Vorteilen spricht sich die ESC in ihrer

vular AF recommend NOAC as the preferred treatment and vitamin K antagonists (VKA) only as an alternative option. Currently, the NOAC factor Xa inhibitors apixaban and rivaroxaban and the thrombin inhibitor dabigatran are more commonly used in clinical practice for patients with AF. Although these drugs have many similarities and are often grouped together it is important to recognize that the pharmacology and dose regimes differ between compounds. Especially n elderly patients NOAC drugs have some advantages compared to VKA, e.g. less drug-drug interactions with concomitant medication and a more favorable risk-benefit ratio mostly driven by the reduction of bleeding. Treatment of

2012 aktualisierten VHF-Leitlinie für eine Bevorzugung von NOAK gegenüber VKA aus [5]. Die Entscheidung für ein bestimmtes NOAK sollte nach Abschätzung des Risikos für eine Thromboembolie und Blutung des einzelnen Patienten getroffen werden. Die auf den individuellen Patienten abgestimmte Herangehensweise für die orale Antikoagulation erweist sich besonders bei älteren Patienten aufgrund von Komorbiditäten und Begleitmedikationen als unabdingbar.

anticoagulation in geriatric patients requires weighing the serious risk of stroke against an equally high risk of major bleeding and pharmacoeconomic considerations. Geriatric patients in particular have the greatest benefit from NOAC, which can also be administered in cases of reduced renal function. Regular control of the indications is indispensable, as also for all other medications of the patient. The use of NOAC should certainly not be withheld from geriatric patients who have a clear need for oral anticoagulation. Keywords Stroke · Prevention · Adherence · Older Patients · Interdisciplinary management

Rolle des geriatrischen Assessments bei der Indikationsstellung Dem geriatrischen Assessment kommt eine wichtige Rolle für eine differenzierte Antikoagulation zu. Es trägt dazu bei, bestimmte Teilbereiche des Gesundheitszustands, die Mobilität und Aktivitäten des täglichen Lebens zu quantifizieren. Außerdem liefert es – bei wiederholter Durchführung – Informationen über die Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie

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Übersichten Infobox 1 CHA2DS2-VASc-Wert für Schlaganfallrisiko bei Vorhofflimmern C  Herzinsuffizienz (engl. congestive heart failure) +1 Punkt H   Hypertonie („Hypertension“) +1 Punkt A2  Alter ≥75 Jahre +2 Punkte D   Diabetes mellitus +1 Punkt S2  Früherer Schlaganfall oder transitorische ischämische Attacke oder Thrombembolie +2 Punkte V   V  askuläre Erkrankungen wie periphere arterielle Verschlusskrankheit oder Herzinfarkt +1 Punkt A   Alter 65–74 Jahre +1 Punkt Sc 

 eibliches Geschlecht (engl. sex W category) +1 Punkt

Infobox 2 HAS-BLEDBlutungsrisiko H   Hypertonie +1 Punkt A  Abnormale Nierenfunktion/Leberfunktion je +1 Punkt S   Schlaganfall in der Anamnese +1 Punkt B   Blutung in der Anamnese +1 Punkt L   labile INR-Einstellung (+1 Punkt) E  Alter ≥ 65 Jahre (engl. elderly) (+1 Punkt) D  Medikamente wie NSAID, Alkohol (engl. drugs) je +1 Punkt

Entwicklung des Patienten, was die Entscheidung zur Initiierung, Beibehaltung oder Terminierung einer Therapie erleichtern bzw. standardisieren kann [10]. Bei Therapieentscheidungen zur Antikoagulation geht es v. a. darum, ob dem Patienten unter Berücksichtigung seiner kognitiven und manuellen Fähigkeiten die Verantwortung für die Einnahme seines Medikaments übertragen werden kann, oder ob dazu die Einbindung dritter Personen erforderlich ist. Es gibt zahlreiche Assessments, deren Auswahl von den Bedürfnissen des Patienten und auch von der Erfahrung des Arztes abhängt. Die Beurteilungen können durchaus von entsprechend ausgebildeten Hausärzten bzw. Fachärzten durchgeführt werden.

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Empfehlenswerte Instrumente sind beispielsweise: 55Barthel-Index: Verfahren zur Bewertung der alltäglichen Fähigkeiten eines Patienten, zum systematischen Erfassen von Selbstständigkeit bzw. Pflegebedürftigkeit in Bezug auf bestimmte „Aktivitäten des täglichen Lebens“. In 10 Themenfeldern (Essen/Trinken, Baden/Duschen, Körperpflege, An- und Ausziehen, Stuhl-, Harnkontrolle, Benutzung der Toilette, Bett-/Stuhltransfer, Mobilität, Treppen steigen) werden jeweils minimal 0 Punkte und je nach Kriterium maximal 5 bis 15 Punkte vergeben. Der resultierende Score reicht von 0 (komplette Pflegebedürftigkeit) bis maximal 100 Punkte (Selbstständigkeit; [28]). 55DemTect (Demenz-Detektion): Der DemTect, ein Demenz-ScreeningVerfahren, das zunehmend häufiger Anwendung findet, wird in Form einer Befragung durchgeführt [33]. Die Leistungen des Patienten werden vom Untersucher auf einem Testbogen protokolliert. Er enthält 5 Aufgaben zu den Funktionen verbales Gedächtnis, Wortflüssigkeit, intellektuelle Flexibilität und Aufmerksamkeit. Die Durchführung dauert nur ca. 10 min. Die Rohwerte des Tests werden in Testwerte umcodiert (für unter und über 60-Jährige getrennt) und dann aufsummiert, sodass die endgültig resultierenden Testwerte unabhängig vom Alter vergleichbar sind. Die Skala reicht von 0 bis 18 Punkten: Werte ab 13 Punkten sprechen für eine angemessene kognitive Leistung, zwischen 9 und 12 Punkten ist von einer milden kognitiven Beeinträchtigung und bei Werten unter 8 von einer Demenz auszugehen. Die Testwerte sollen nicht nur unabhängig von der altersgemäßen Abnahme kognitiver Fähigkeiten, sondern auch unabhängig vom Bildungsgrad sein [36]. 55Mini-Mental-Status-Test (MMST): Durchgeführt als Interview mit dem Patienten, stellt der MMST ein für den klinischen Alltag geeignetes Screeningverfahren zur

Feststellung kognitiver Defizite dar und dient als Hilfsmittel bei der Diagnose und Verlaufskontrolle von Demenz und Alzheimer-Krankheit. In 9 Aufgabenkomplexen (u. a. zeitliche Orientierung, räumliche Orientierung, Merkfähigkeit, Aufmerksamkeit/Rechnen, Erinnerung, Sprache, Nachzeichnen, Lesen, Schreiben) werden bis zu jeweils 6 Punkte vergeben. Bei der Interpretation der Ergebnisse ist die Abgrenzung zur Depression wichtig [18]. 55Geldzähltest nach Nikolaus: Assessment zur Erfassung der Alltagskompetenzen. Der Zeitbedarf eines Patienten beim Zusammenzählen des Werts einer definierten Zahl von Geldscheinen und Münzen in einer Geldbörse wird ermittelt (9,80 €; [51]). 55Timed Up and Go-Test/zeitmessender Test zum Aufstehen und Gehen: Performance-Test zur Mobilitätsmessung, bei dem der Patient unter Zeitnahme gebeten wird, aus dem Sitz aufzustehen, 3 m hin und zurück zu gehen und sich wieder hinzusetzen [57]. 55Modifizierte Rankin-Skala zur Qualifizierung des neurologischen Defizits nach Schlaganfall: Die Skala erfasst das Ausmaß der Behinderung nach einem Schlaganfall. Sie gilt als etabliertes Instrument für die Beschreibung der neurologischen Beeinträchtigung in klinischen Studien und wird auch für die Prädiktion des Verlaufs der Patienten eingesetzt (funktionelle Outcomes, [17, 28]). Die Skala reicht von 0 (überhaupt keine Symptome) bis 5 (schwere Behinderung, Bettlägerigkeit, Inkontinenz, Erfordernis ständiger Pflege und Aufmerksamkeit).

Interaktionscheck für die Medikamente Die Multimorbidität im Alter geht bei den Patienten mit der gleichzeitigen Gabe mehrerer Medikamente einher. Diese Polymedikation führt zu zahlreichen Problemen: Neben praktischen Problemen bei der Einnahme (zum

Tab. 1  Pharmakologische Charakterisierung der neuen oralen Antikoagulanzien. (Quelle: Fachinformationen der Präparate) Häufigkeit der Gabe Wirkmechanismus Bioverfügbarkeit nach oraler Gabe (%) Halbwertszeit (h) Zeit bis zum maximalen Wirkungseintritt (h) Renale Elimination (%)

Dabigatran 1–2-mal tägl. Selektiver direkter FaktorIIa(Thrombin)-Hemmer 6–8 12–14 2

Rivaroxaban 1-mal tägl. Selektiver direkter Faktor-Xa-Hemmer 80–100 9–13 2–4

Apixaban 2-mal tägl. Selektiver direkter Faktor-Xa-Hemmer 50 12 1–4

Edoxaban 1-mal tägl. Selektiver direkter Faktor-Xa-Hemmer 62 10–14 1–2

85

66a

27

50

aDavon 33 % unveränderte Substanz und 33 % inaktive Metaboliten.

Tab. 2  Potenzielle Interaktionen der neuen oralen Antikoagulanzien mit anderen Arzneimitteln. (Mit Genehmigung des Verlags von De Caterina

et al. [11]) Dabigatran Rivaroxaban P-gp-Hemmer: Verapamil: Dosis Starke CYP3A4 -und P-gpreduzieren Inhibitorena: vermeiden Dronedaron: vemeiden Starke CYP3A4- und P-gpStarke P-gp-Induktorenb: vermeiden Induktorenc: mit Vorsicht anwenden

Apixaban Starke CYP3A4 und P-gp- Inhibitorena: vermeiden Starke CYP3A4 und P-gpInduktoren: mit Vorsicht anwenden

Edoxaban Starke P-gp-Hemmera: Dosis reduzieren Starke P-gp-Induktorenb: vermeiden

CYP Zytochrom-P450-Isoenzym. P-gp P-Glykoprotein. aStarke Inhibitoren von CYP3A4 beinhalten: Fungizide (z. B. Ketoconazol, Itraconazol, Voriconazol, Posaconazol), Chloramphenicol, Clarithromycin und Proteaseinhibitoren (z. B. Ritonavir, Atazanavir). P-gp Inhibitoren beinhalten Verapamil, Amiodaron, Chinidin und Clarithromycin. bP-gp-Induktoren beinhalten Rifampicin, Johanniskraut (Hypericum perforatum), Carbamazepin und Phenytoin. cStarke CYP34A4-Induktoren beinhalten Phenytoin, Carbamazepin, Phenobarbital und Johanniskraut.

richtigen Zeitpunkt, in der richtigen Menge) ergeben sich auch Risiken hinsichtlich der Interaktion der Medikamente. Letztlich ist die Hauptsorge das erhöhte Blutungsrisiko. Eine Vielzahl von pharmakodynamischen und -kinetischen Interaktionsmöglichkeiten ist vom behandelten Arzt zu beachten, v. a. bei Phenprocoumon als wichtigstem Vertreter der VKA in Deutschland. Hervorzuheben sind diejenigen mit NSAID, Sulfonamiden, verschiedenen Antibiotika, Amiodaron und Phenytoin [15, 45]. Darüber hinaus können die unter VKA erforderlichen Ernährungsanpassungen die Lebensqualität der Patienten deutlich beeinträchtigen [49]. Den starken Induktoren und Inhibitoren von Zytochrom-P450(CYP)3A4 bzw. des P-Glykoproteins kommt eine besondere Rolle zu. In der Praxis sind in diesem Zusammenhang v. a. die fungiziden Substanzen, einige Antibiotika, NSAID, Kardiaka wie Verapamil oder Amiodaron, die HIV-Mittel und andere antivirale Substanzen relevant. Aber auch das Johanniskraut, das Patienten niedrig-dosiert als Nahrungsergänzungsmittel in der Drogerie erwerben können, ist für zahlreiche Inter-

aktionen mit anderen Medikamenten verantwortlich. Verglichen mit VKA, ist das Interaktionspotenzial von NOAK viel geringer [11]. In einem Positionspapier der ESC Working Group on Thrombosis – Task Force on Anticoagulants in Heart Disease sind relevante Interaktionen der einzelnen NOAK aufgelistet, die in der Praxis jedoch wenige Probleme bereiten (. Tab. 2). Interaktionschecks werden allerdings in der Praxis oftmals aus verschiedenen Gründen unterlassen. Häufig sind Zeitmangel, Kosten für Laboruntersuchungen oder eine fehlende Abstimmung mit ärztlichen Kollegen verantwortlich. In der Folge kann es zu schweren unerwünschten Wirkungen kommen. Bei geriatrischen Patienten ist es unerlässlich, die komplette Medikation in regelmäßigen Abständen eingehend zu überprüfen. Dies gilt auch für Arzneimittel, die von (fach-)ärztlichen Kollegen in der Klink und oder im niedergelassenen Bereich einmal angesetzt wurden und nicht unkritisch ohne regelmäßige Bestätigung der Indikation weitergeführt werden sollten.

Neues Adhärenzsystem Mangelhafte Therapieadhärenz von älteren Patienten ist ein typischer Befund in der ärztlichen Praxis. Abhängig von der Aufklärung der Patienten, dem Wissen über das Nutzen-Risiko-Verhältnis, der Dosierungsart und -häufigkeit steigt die Häufigkeit von Nonadhärenz. Barat et al. berichteten in einer dänischen Studie, dass Patienten eine um den Faktor 2,5 („odds ratio“, OR) höhere Nonadhärenzrate aufwiesen, wenn sie mehr als 3 Medikamente einnahmen. Weiterhin waren die Verschreibungen von mehr als einem behandelnden Arzt (OR 2,5), der Status alleinlebend (OR 2,0) und die Wahrscheinlichkeit einer Demenz (OR 9,0) mit Nonadhärenz assoziiert [4]. Die motorischen Fähigkeiten von alten Patienten werden oft nicht richtig eingeschätzt. So können etwa 10 % der über 80-jährigen Patienten Tabletten aus normalen BlisterPackungen nicht herausdrücken und 64 % dieser Patienten Schraubverschlüsse mit Kindersicherungen nicht öffnen [52]. Moderne Medikamentenspender, beispielsweise patientenindividuelle Verblisterung von Tabletten und Kapseln, könnten einen Lösungsansatz darstellen. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie

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Übersichten Eine bedeutende Rolle kommt auch den Angehörigen zu, die zusätzlich zu den Patienten geschult werden sollten. In einer detaillierten Übersicht der Weltgesundheitsorganisation wird die durchschnittliche Adhärenz der Patienten hinsichtlich einer Dauermedikation für chronische Erkrankungen mit 50 % angegeben [75]. Unter anderem wurde in der Physicians’ Health Study, in der Ärzte 325 mg Aspirin jeden zweiten Tag in der Dauertherapie einnehmen sollten, eine Adhärenzrate von nur 70 % nach 3 Jahren berichtet [69]. In einer aktuellen Datenbankanalyse aus Kanada mit über 15.000 Patienten wurden 31,3 % der Erstverschreibungen für Medikamente nicht eingelöst [71]. Aus Patientensicht erscheinen nichtspürbar wirkende Arzneimittel (z. B. Antihypertensiva, Lipidsenker, Antithrombotika) als „unwirksam“ und somit verzichtbar. Zahlreiche Ansätze zur Verbesserung der Adhärenz wurden berichtet, die teilweise Wirkung auf die Adhärenz, nicht aber auf die klinischen Outcomes zeigten [38, 59]. Bisher wurde die Adhärenz bei älteren Patienten nur in Ansätzen systematisch untersucht [21]. Die Therapietreue von Patienten unter VKA ist gering, und man geht davon aus, dass etwa 30 % der Patienten, die orale Antikoagulanzien erhalten, diese Medikation im ersten Jahr abbrechen [20]. Eine Reihe von Maßnahmen zur Verbesserung der Adhärenz wurde in randomisierten Studien überprüft [29, 46]. Empfehlenswert sind v. a. eine ausführliche und patientengerechte Aufklärung zu Nutzen und Risiken durch den behandelnden Arzt (wenn möglich unter Einbeziehung der Angehörigen), die Wiedereinbestellung des Patienten zur Kontrolle der Therapie in regelmäßigen Abständen und ggf. Erinnerungen an die indikationsgerechte Medikationseinnahme über verschiedene Kommunikationswege. Diese vorgeschlagenen Maßnahmen zur Verbesserung der Adhärenz sind sowohl für VKA als auch für NOAK sinnvoll. Regelmäßig sollten NOAK-Patienten mit hohem Schlaganfall- und Blutungsrisiko vom behandelnden Arzt gesehen werden. Bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion sollten Blutproben für

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die Bestimmung der Elektrolyte, insbesondere Kalium zum Ausschluss einer Hyperkaliämie, abgenommen und die Nierenwerte bestimmt werden. Die Blutabnahme kann, obwohl sie nicht die Gerinnung misst, ähnlich der INR-Messung adhärenzfördernd sein.

Beenden oder Pausieren der NOAK-Therapie Die Antikoagulation mit VKA muss unterbrochen werden, wenn eine Intervention geplant und ggf. eine Überbrückung („bridging“) mit Heparin erforderlich ist. Bei den NOAK ist im Vergleich zu den VKA eine Therapieunterbrechung einfacher durchführbar [30, 66]. Im Allgemeinen ist aufgrund der kurzen Halbwertszeit von 12 h kein HeparinBridging sinnvoll. Allerdings sind bei Patienten mit erhöhtem Blutungsrisiko und/oder schweren Operationen (herzund neurochirurgische Eingriffe, abdominelle Eingriffe an größeren Organen, Spinalanästhesie, Lumbalpunktion) in Abhängigkeit vom verwendeten Präparat längere Zeitspannen für die Therapieunterbrechung erforderlich. Andere Faktoren, die ein erhöhtes Blutungsrisiko bedingen, müssen ebenfalls berücksichtigt werden (Herz-, Atemwegs-, Lebererkrankungen; Begleittherapie mit Thrombozytenaggregationshemmern). Des Weiteren ist insbesondere bei dem vorwiegend renal eliminierten Dabigatran die Nierenfunktion des Patienten zu beachten, da diese Substanz bei reduzierter Nierenfunktion kumulieren kann. Es dauert dann ca. 2 Tage, bei schwerer Nierenfunktionsstörung noch länger, bis Dabigatran eliminiert wird und das normale Hämostasepotenzial wiederhergestellt ist.

Wahl des richtigen Antikoagulans Die Pharmakokinetik der NOAK ändert sich altersabhängig. So nimmt etwa bei Dabigatran die Exposition („area under the curve“, AUC), nicht aber der maximale Plasmaspiegel Cmax zu [67; 68]. Mit Abnahme der Nierenfunktion steigt Cmax unter Dabigatran allerdings deutlich an [72].

Für die NOAK wird derzeit kein Monitoring empfohlen. Sinnvoll kann aber eine Spiegelbestimmung in besonderen Situationen sein, z. B. bei Verdacht auf fehlende Adhärenz aufgrund einer Demenz, Arzneimittelinteraktionen, Überdosierung, akuter Blutung, ischämischem Ereignis und Fibrinolyse in der Klinik [58, 61]. Infrage kommen die Bestimmung der kalibrierten verdünnten Thrombinzeit bei Dabigatran (und auch für die parenteralen direkten Thrombininhibitoren Bivalirudin und Argatroban, [2]) bzw. der modifizierte chromatogene Anti-Faktor-Xa-Test bei den Faktor-XaInhibitoren [43, 60, 70]. Diese Untersuchungen kosten jeweils einen einstelligen Eurobetrag. Die Blutabnahme erfolgt in ein normales Gerinnungsröhrchen, die Proben können ungekühlt versendet werden. Die Zahl der Labore, die solche Untersuchungen anbieten, ist derzeit noch beschränkt.

Zuweisungsstrukturen beim Hausarzt Beispiel einer Praxis des Leipziger Gesundheitsnetzes Die interdisziplinäre Abklärung ist insbesondere beim geriatrischen Patienten mit VHF besonders wichtig. Sobald vom Hausarzt nach Erhebung der Anamnese, körperlicher Untersuchung und Registrierung im 12-Kanal-EKG die Diagnose VHF gestellt wird, erfolgt die Terminanfrage an den kooperierenden Kardiologen zur weiteren kurzfristigen diagnostischen Abklärung (u. a. zur Echokardiographie). Bereits bei der Anfrage wird das 12-Kanal-EKG übermittelt. Bei gesicherter Diagnose VHF werden der CHA 2DS 2-VASc und der HASBLED-Score sofort bestimmt. Bei gesicherter VHF-Diagnose und ≥ 1 Punkten im CHA2DS2-VASc wird noch in der Praxis die Antikoagulation eingeleitet. Der Patient wird dann sofort entweder mit niedermolekularem Heparin (NMH; nur bei späterer VKA-Langzeittherapie) oder alternativ einem NOAK behandelt: Die VKA-Therapie sollte parallel zur Heparinantikoagulation initiiert werden. Neben den Vorbefunden, den Laborwerten (im Fokus auf Nieren, Leber- und

Schilddrüsenwerte), den Diagnosen der Begleiterkrankungen (unter besonderer Berücksichtigung von VHF-Prädiktoren), dem Medikamentenplan (mit Hinweis auf beobachtete oder relevante mögliche Interaktionen) werden die Ergebnisse der im Rahmen der geriatrischen Basisversorgung durchgeführten Tests (z. B. MiniMental-Status-Test, Barthel-Index, Timed Up and Go Test, ANGELINA GeriatrieScreeningbogen als Selbsteinschätzungsund Fremdeinschätzungsbogen zur Identifikation und zur Risikoeinschätzung geriatrischer Patienten, ggf. auch mit Verlaufsangaben) beigefügt [35, 65]). Im Facharztbefund oder Entlassungsbericht des Krankenhauses sollte der Hausarzt immer eine Begründung für die Wahl des spezifischen Medikaments zur Antikoagulation (VKA, Apixaban, Dabigatran oder Rivaroxaban), mit Hinweis auf entscheidungsrelevante Begleiterkrankungen (insbesondere Niereninsuffizienz) und die gewählte Dosierung erhalten. Der Patient muss in jedem Fall mithilfe eines entsprechenden Informationsbogens aufgeklärt werden, sein Einverständnis zur Therapie darauf schriftlich dokumentieren und einen ausgefüllten Patientenausweis erhalten. Neben den Patienten sind auch die Pflegekräfte im Rahmen des Überleitungsmanagements zu schulen. Hervorzuheben sind folgende Aspekte: 55Nach einem Trauma sollte der Hausarzt oder bei Hinweis auf größeren Blutverlust, Fraktur oder innerer Verletzung sofort der Notdienst alarmiert werden. 55Erstmaßnahmen bis zum Eintreffen des Notdienstes sind einzuleiten. 55Vorstellung in der Klinik bei Befundänderung/neu aufgetretenen Symptomen wird empfohlen.

Besonderheiten der Pharmakotherapie im Alter Der geriatrische Patient ist gekennzeichnet durch eine Abnahme vieler physiologischer Funktionen, darunter der Leitungsgeschwindigkeit der Nerven, des Herzindex, der Vitalkapazität und der glomerulären Filtrationsrate (GFR). Der verminderten Nierenfunktion kommt eine wesentliche Bedeutung zu, da die

Kreatinin-Clearance bei 80-jährigen Personen bereits 50 % des maximalen Werts eingebüßt hat und somit funktionell nur noch eine junge Niere zur Verfügung steht [42, 48]. Da auch die Muskelmasse als Hauptlieferant des Kreatinins entsprechend abnimmt, bleibt im Ergebnis die Serumkreatininkonzentration konstant, was zu diagnostischen und therapeutischen Fehlentscheidungen führen kann. Die Anwendung von validierten Einschätzungshilfen wie Cockcroft-Gault-Formel [8, 64], die bei geriatrischen Patienten zu bevorzugen ist, oder der abgekürzten Formel Modification of Diet in Renal Disease (MDRD, [40]) hilft im klinischen Alltag dabei, die GFR bzw. die KreatininClearance auf einfache Weise abzuschätzen. Neben den physiologischen Veränderungen kommt der geänderten Pharmakodynamik der Medikamente große Bedeutung zu. Ältere Patienten zeigen oftmals eine größere Empfindlichkeit als jüngere Patienten gegenüber der Pharmakotherapie und benötigen deshalb eine Dosisreduktion. Außerdem kann es zu atypischen Effekten kommen. Als Beispiel sollen die stärkere und anhaltende Wirkung von Opiaten bzw. Opioiden genannt sein oder bei NSAID die häufigeren Komplikationen wie gastrointestinale Blutung, Nierenfunktionseinschränkungen, Hyperkaliämie, Hypertonie, Schlaganfall oder Herzinfarkt. Das Risiko ist unter der Behandlung mit NSAID substanziell erhöht: Die chronische Gabe von Medikamenten dieser Substanzklasse erhöht bei fast allen Patienten den Blutdruck, was die Gabe von Antihypertensiva (oder bei bereits bestehender Therapie) die zusätzliche Gabe eines weiteren Antihypertensivums erforderlich macht. Im Vergleich zu Metamizol erhöhen NSAID die Mortalität sogar um den Faktor 10–30, bedingt durch gastrointestinale und kardiovaskuläre Komplikationen [1]. In der Antikoagulanzientherapie ist der Spagat zwischen möglicher Unter- und Übertherapie abzuwägen (erhöhtes Risiko von thrombembolischen Komplikationen vs. Risiko von v. a. intrazerebralen Blutungen, [19, 73]). Der therapeutische Bereich ist bei älteren Patienten viel

kleiner als bei jüngeren. Insbesondere gebrechliche ältere Patienten mit VHF sind deshalb der Gefahr ausgesetzt, durch Verzicht auf orale Antikoagulation und Einstellung auf die unwirksameren Thrombozytenaggregationshemmer unzureichend behandelt zu werden [56]. Phenprocoumon als wichtiger Vertreter der Cumarine in Deutschland ist an zahlreichen Medikamenteninteraktionen beteiligt. Hervorzuheben sind diejenigen mit NSAID, Sulfonamiden, verschiedenen Antibiotika, mit Amiodaron und mit Phenytoin [15, 45]. Der verringerten Nierenfunktion beim geriatrischen Patienten muss besondere Beachtung zugemessen werden. Unterschätzt werden oftmals akute Nierenfunktionseinschränkungen im Krankenhaus, aber auch im häuslichen Bereich [7, 13]. So ergeben sich Schwankungen der Funktion, bedingt durch Austrocknung (z. B. Sommerhitze), Gastroenteritiden (z. B. Norovirusinfektion), aber auch durch Blutdruckschwankungen, HerzKreislauf-Erkrankungen und neu angesetzte oder in der Dosierung geänderte Arzneimittel, v. a. Antihypertensiva oder Diuretika. Bei Patienten mit nichtvalvulärem VHF war in einer vorab spezifizierten Subgruppenanalyse der Studie „Apixaban for Reduction in Stroke and Other Thromboembolic Events in Atrial Fibrillation“ (ARISTOTLE) eine Niereninsuffizienz mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse und Blutungen assoziiert. Verglichen mit Warfarin reduzierte Apixaban die Rate von Schlaganfällen, Tod und schweren Blutungen, unabhängig von der Nierenfunktion. Bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion ergab sich die im Verhältnis stärkste Reduktion in der Rate schwerer Blutungen [31]. Insgesamt war der Nutzen von Apixaban in der Altersgruppe > 65 Jahre konsistent mit dem Gesamtergebnis der Studie bezüglich Reduktion von Schlaganfällen oder systemischen Embolien und schweren Blutungen. In der Gruppe der > 80-Jährigen (13 %) schien der absolute Nutzen von Apixaban am größten (vorbehaltlich der methodischen Einschränkungen einer Subgruppenanalyse, [27]).

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Übersichten

Kosteneffektivität Die klinische Überlegenheit der NOAK gegenüber den VKA hinsichtlich des Auftretens intrakranieller Blutungen dürfte sich auch ökonomisch niederschlagen, sofern die damit assoziierten Kosten berücksichtigt werden. Außerdem ist die Kostenersparnis durch verhinderte Schlaganfälle einzurechnen. Die gemittelten Kosten, bezogen auf das US-amerikanische Gesundheitssystem, sind bei einer leichten gastrointestinalen Blutung unter VKA gegenüber der komplikationslosen VKA-Dauertherapie kaum verändert (24.000 USD/Jahr), erhöhen sich aber drastisch bei Auftreten einer schweren gastrointestinalen oder einer intrakraniellen Blutung (ca. 41.000 USD/Jahr, [22]). Für Patienten ab 75 Jahren ergaben sich auf der Grundlage vermiedener Ereignisse (ohne Berücksichtigung direkter Medikationskosten) im Vergleich zu Warfarin jährliche Einsparungen in Höhe von 825 USD für Apixaban, 23 USD für Rivaroxaban sowie Kostenerhöhungen von 180 USD für Dabigatran [14]. Zu beachten ist, dass die Modellanalysen auf Daten klinischer Studien beruhen. Durch Preisreduktionen bei den NOAK in der jüngeren Vergangenheit sind die Analysen, soweit sie direkte Medikationskosten berücksichtigten, teilweise nicht mehr gültig. Eine aktuelle Arbeit, basierend auf deutschen Daten, zeigt beispielsweise, dass pro gewonnenem qualitätsadjustiertem Lebensjahr für die 2-mal tägliche Gabe von 5 mg Apixaban etwa 55.500 € aufgewendet werden müssen [37]. Zum jetzigen Zeitpunkt ist eine abschließende Kosteneffektivitätsanalyse für geriatrische Patienten in Deutschland noch nicht verfügbar. Es ist anzunehmen, dass für die NOAK im Vergleich zu VKA mehr Kosten aufgewendet werden müssen, diese aber in den meisten Gesundheitssystemen weit unter den gesundheitswirtschaftlich akzeptierten Obergrenzen liegen.

Fazit für die Praxis 55Geriatrische Patienten stehen im Spannungsfeld zwischen hohem Schlaganfallrisiko, hoher

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Blutungsneigung und auch pharmakoökonomischen Gesichtspunkten. 55Vitamin-K-Antagonisten werden nur bei 50 % der dafür geeigneten Patienten verwendet, von denen aber > 50 % unzureichend eingestellt sind (bedingt durch die teilweise berechtigte Furcht vor Interaktionen mit Arzneimitteln, Nahrung, Erkrankungen, eingeschränkte Funktionalität und Demenz). 55Die NOAK sind ausweislich der Vergleichsstudien den VKA mindestens ebenbürtig, wobei es aber durchaus Abstufungen in Wirksamkeit und Sicherheit gibt. 55Insbesondere die Gabe von vorwiegend renal-eliminierten NOAK erscheint im Alter kritisch, zumal die Nierenfunktion mit dem Alter abnimmt bzw. je nach Komorbiditäten schwanken kann und dies zu selten festgestellt wird. 55Das Interaktionsrisiko ist unter NOAK, verglichen zu VKA, geringer. 55Die direkten Medikationskosten der NOAK sind noch relativ hoch, jedoch sind die Gesamtkosten unter Berücksichtigung von verhinderten Schlaganfällen bzw. Blutungen begründbar.

Korrespondenzadresse Privatdozent Dr. P. Bahrmann MHBA Institut für Biomedizin des Alterns, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Kobergerstr. 60, 90419 Nürnberg [email protected]

Danksagungen.  C. Azadi, Pfizer Pharma GmbH, Berlin, organisierte die Konferenz. Pfizer Pharma GmbH finanzierte die Konferenz und bot Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Arbeitspapiers durch 3P Consulting, Seefeld, nahm jedoch keinen Einfluss auf die Inhalte. Alle Verfasser waren für kritische Überprüfungen des Manuskripts und für die Formulierung der zentralen Inhalte verantwortlich. Sie genehmigten die Endfassung des Manuskripts.

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  P. Bahrman war Stipendiat des Forschungskollegs Geriatrie der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart. Er erhielt Vortrags- und Beratungshonorare von Pfizer, Bayer, Novartis, AstraZeneca, Boehringer-Ingelheim und ThermoScientific. J. Flohr erhielt Beratungs- und Vortragshonorare von Berlin-Chemie, Grünenthal, GSK, Hexal, Mundipharma, MSD, Pohl-Boskamp, Shire, UCB und Pfizer. M. Wehling war von 2004 bis 2006 während seines Sabbaticals von seiner Professur an der Universität Heidelberg bei AstraZeneca R&D, Mölndal, als Leiter der medizinischen Forschung (translationale Medizin) beschäftigt. Nach Rückkehr auf seine Position im Januar 2007 erhielt er Vortragsund Beratungshonorare von Sanofi-Aventis, Novartis, Takeda, Roche, Pfizer, Bristol-Myers Squibb, Bayer, Boehringer-Ingelheim, Otsuka, Daichii-Sankyo, Lilly, LEO, Shire und Novo-Nordisk. F. Harms und C.M. Schambeck geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

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[New oral anticoagulants for prophylaxis of stroke. Results of an expert conference on practical use in geriatric patients].

Geriatric patients with non-valvular atrial fibrillation (AF) are increasingly being treated with novel oral anticoagulants (NOAC) to prevent ischemic...
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