DEUTSCHE MEDIZINISCHE

W0CHENSCHRIFT

Stuttgart, 17. Februar 1978

Nr. 7 Jahrgang 103

Dtsch. med. Wschr. 103 (1978), 281-283 © Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Was heißt »Lebervergrößerung« im Kindesalter ?* P. Sachtleben Se.

Clisabeth, Neuburg/Donau

Für alle der insgesamt acht Vorsorgeuntersuchungen der Kinder zwischen dem ersten und vierten Lebensjahr wird in den neuen Dokumentationsheften die Frage nach »Lebervergrößerung« gestellt. Aber: was heißt Lebervergrößerung hier eigentlich? Das Normalmaß des Internisten ist für die gesunde Leber der Stand ihres unteren Randes am Rippenbogen. Dieses Maß kann bei Kindern aber nicht angewandt werden, denn die Kinderleber steht oft tiefer, ohne daß sie deswegen pathologisch groß sein muß. Befragt man pädiatrische Lehr- und Handbücher, so erhält man kein einheitliches Bild. So wird zum Beispiel in einem deutschen Standardwerk zwar ausdrücklich darauf hingewiesen, daß Lebervergrößerung (neben Ikterus) das wichtigste Zeichen einer Lebererkrankung sei, als Normalgröße, in Relation zu welcher eine Übergröße ja erst festgestellt werden kann, finden wir aber nur den Hinweis, die Leber sei im Säuglings- und Kleinkindesalter 1-2 cm unter dem rechten Rippenbogen in der Mediokiavikularlinie tastbar. - In einem anderen Lehrbuch liest man, die Bestimmung der Lebergröße sei nur durch Palpation möglich, sie sei beim Säugling »relativ« größer als beim Erwachsenen, ihr unterer Rand stehe deutlich unterhalb des Rippenbogens. Im Handbuch der Kinderheilkunde findet man die Angabe, die Leber überrage beim Neugeborenen in der Medioklavikularlinie bis zu S cm den rechten Rippenbogen. Ihr unterer Rand bleibe während der ganzen Kindheit unter dem Rippenbogen, im zweiten Lebensjahrzehnt noch immer um 2-3 cm. In einem anderen Band dieses Werkes steht die lapidare Bemerkung: »Leber und Milz befinden sich am Rippenbo-

Aus diesen Gründen möchte ich auf eine Untersuchung hinweisen, die sich mit den normalen Größen der Leber von gesunden Kindern befaßt (1, 2). Diese Untersuchung war damals in Gang gekommen, da bei hämatologisch kranken Kindern die wiederholte Feststellung der Lebergröße ein feiner Indikator für den Verlauf der Krankheit sein kann, es fehlten aber damals die Normalwerte zum Vergleich. Deshalb war nun bei über 1000 gesunden Kindern aus Neugeborenenabteilungen, Kindergärten und Schulen die Lebergröße untersucht worden. Als erstes zeigte sich hierbei, daß die Leber tatsächlich unter dem Rippenbogen stehen kann. Bei Säuglingen steht sie sogar immer, also in 100% der Fälle, darunter. Ein Stand am Rippenbogen wäre hier sogar sicher pathologisch (Abbildung 1).

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gen«. Von drei verschiedenen Werken über pädiatrische Differentialdiagnose, die alle in letzter Zeit erschienen sind, wird in zweien überhaupt kein Versuch mehr unternommen, zu einer Vorstellung über die normale Lebergröße zu gelangen. *

Professor Dr. J. B. Mayer, em. Direktor der Kinderklinik der Universität des Saarlandes, zum 70. Geburtstag

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Leber unter Rippenbogen tasibar

%

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0

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14-15 Jahre

Abb. 1. Prozentzahl der Kinder, deren Leber unter dem Rippenbogen tastbar gewesen ist, bezogen auf ihr Lebensalter.

1978 Georg Thieme Publishers (281)

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Kinderklinik

Sachtleben: Was heißt 'Lebervergrößerung" im Kindesalter?

Die zur Erhebung dieses Befundes angewandte Methode ist die Palpation. Mit ihr kann aber ñur der Unterrand der Leber festgestellt werden, dessen Lage aber nicht von der Lebergröße allein, sondern auch vom Zwerchfellstand mit abhängig ist. So weisen zum Beispiel viele Asthmatiker im Anfall eine »vergrößerte« Leber auf, die in Wirklichkeit nur wegen des Zwerchfelltiefstandes eine ebenfalls tiefstehende Leber darstellt. Neben der Palpation müssen also andere Methoden Verwendung finden, die es gestatten, auch den oberen, den pulmonalen Rand der Leber zu bestimmen. Dies ist in erster Linie die Methode der Perkussion der Leber. Sie ist beim Kinde, selbst beim Neugeborenen, gut durchführbar. Die Grenzen lassen sich bis auf einen halben Zentimeter genau festlegen (Abbildung 2), wahrscheinlich deshalb, weil die relative und absolute Dämpfung weitgehend zusammenfallen. der Kinder %

Abweichung des auskultatorischen vom perkutorischen Wert

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Deutsche Medizinische Wochenschrifc

in der Medizin auch nicht mehr üblich, sich anderer mittelalterlicher Maßstäbe wie zum Beispiel Kiafter, Elle oder Fuß für Längenmessungen zu bedienen. Breite eines Querfingers

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15-

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Männer Frauen

10-

5-

flr. 1,4

1,3

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1,7

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1,9 2,0 2,1 2,2 2,3 2,4cm

Abb. 3. Die Unterschiede in der Breite von Querfingern, ausgedrückt in Zentimetern. Gemessen wurde bei 30 Personen das Mittelglied der Mittel- und Zeigefinger beider Hände.

Die mit diesen Methoden bei über tausend gesunden Kindern gewonnenen Lebergrößen zeigt Abbildung 4.

50

40 cm

Leberhöhe bei gesunden Kindern

1230

10-' 20

10

+

-

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1,0

0,5

0

0,5

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2,0 +

(cm)

Abb. 2. Vergleich der Meßergebnisse von Perkussion und Kratzauskultation (Neugeborene, n = 217, P> 0,5).

Bestimmt man mit wenigen Handgriffen von der Lunge herunterkommend erst die obere, dann die untere Lebergrenze, so hat man ein absolutes Maß für die Lebergröße selbst gewonnen, gleich, ob das Organ nun in Mittellage steht, in den Thorax hochgedrückt oder in das Abdomen herabgeschoben ist. In Zweifelsfällen hilft schließlich als dritte Methode, zum Beispiel bei Adipösen, die Kratzauskultation. Hierbei wird das Stethoskop auf das Xyphoid gesetzt und dann mit dem Fingernagel parallel zum erwarteten Leberrand Strich für Strich die Bauch- oder Thoraxhaut leicht gekratzt. Gelangt man von Darm oder Lunge auf Leber, so wird der hörbare Kratzton schärfer und lauter. Der Abstand der so festgestellten oberen und unteren Lebergrenze wird a1s Leberhöhe bezeichnet. Sie wird in Zentimetern gemessen. Wie Abbildung 3 zeigt, eignen sich Querfinger nicht. Ihre Stärke variiert bei verschiedenen Untersuchern um über 100%. Es ist zudem heute

IlIlIllIlli II III

n: 217

0

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6-7

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14-15 Jahre

Mittelwerte:

viern) 5,67 6,22 Vertrauensbereich:

2s(cm) 1,8

rl,6

6,34

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7,37

8,80

2,8

Abb. 4. Die Leberhöhe bei 1162 gesunden Kindern. Auf der Abszisse ist das Alter der Kinder eingetragen.

Die weitere Analyse (1, 2) ergab folgende einfache Faustregel für den klinischen Gebrauch: Die Leberhöhe beträgt ein Zwanzigstel der Körperlänge eines Kindes, beim Neugeborenen ein ZehnteL. Die Streuung (2s) beträgt ± 1,5 cm, bei Adoleszenteri das Doppelte.

Diese Regel muß für Säuglinge bis auf weiteres unter der Einschränkung gesehen werden, daß die ihr zugrunde liegenden Erfahrungswerte nur von Neugeborenen stammen. Man kann bei älteren Säuglingen relativ

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geringere Leberhöhen annehmen und muß hier zwischen 1/lo und 1/20 der Körperlänge interpolieren. Im übrigen sollten die Vorsorgeuntersuchungen dort, wo sie in größerer Zahl ausgeführt werden, heute die Gelegenheit bieten, auch Säuglinge in festgelegten Altersklassen zu untersuchen und damit Normwerte zu gewinnen. Hierfür ungeeignet sind jedenfalls Patienten einer Klinik, also kranke IKinder. Die durchschnittliche Lebergröße von Mädchen war etwas geringer (2-4%) als die von Jungen. Der Unterschied konnte nur bei der Gruppe der Sechs- bis Siebenjährigen gesichert werden (P < 0,01). Der Unterschied liegt nicht in unterschiedlicher Körpergröße, denn Knaben sind nur minus 0,2 bis plus 0,8% größer als ihre Altersgenossinnen. Ein Unterschied des Konstitutionstyps beginnt sich bei den 14- bis lsjährigen zu zeigen. Leptosome haben im Durchschnitt gegenüber Athletischén um 0,59 cm (P < 0,001), gegenüber Pyknischen sogar um 0,84 cm (P < 0,001) größere Leberhöhen. Bei Neugeborenen ist die Variation der Leberhöhe mit 4-7,5 cm recht groß. Das sind fast 10% der Körperlänge. Einflüsse des Lebensalters zwischen ein und zehn Tagen ließen sich nicht finden, ebensowenig Einflüsse des Körpergewichtes zwischen 2500 und 4500 g. Eine unterschiedliche Blutfülle der Leber infolge unterschiedlicher Abnabelungstechnik und damit unterschiedlich großer Transfusion von Plazentarblut ist ausgeschlossen und kann somit diese große Variation der Leberhöhe auch nicht erklären. Bei Kindern, die vor und dann noch einmal nach einer körperlichen Belastung, zum Beispiel nach der Turnstunde, untersucht worden waren, zeigte sich in der Mehrzahl der Fälle ein Rückgang der Leberhöhe

Sachtleben: Was heißt .Lebervergrößerung im Kindesalter?

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um 10-20% (3). Dies sollte bei der Untersuchung von Kindern berücksichtigt werden. Es zeigt außerdem eine physiologische Regulation an. Wahrscheinlich werden nämlich die. Blutdepots der Leber infolge der körperlichen Belastung der Kinder entleert und führen damit zu der Verminderung der Leberhöhe. Die Tatsache, daß körperliche Beanspruchung zu einer Verminderung der Lebergröße führt, noch dazu in einem solchen Ausmaß, daß sie sogar mit den relativ groben Methoden der klinischen Untersuchung festgestellt werden kann, dürfte auch für den mehr experimentell und theoretisch arbeitenden Mediziner eine Bedeutung besitzen. Ebenso hat die folgende Beobachtung ein auch wissenschaftliches Interesse: Beim Vergleich der Organgewichte von Lebern, die bei der Obduktion erhalten worden waren, mit den klinisch feststeilbaren Leberhöhen ergab sich eine hohe Parallelität dieser beiden Meßwerte im Laufe der Kindheit. Man kann also - cum grano salis von der Leberhöhe auf das Lebergewicht zurückschließen (2). Wir können somit abschließend feststellen, daß die Leberhöhe im Kindesalter eine sicher feststellbare Größe ist. Sie läßt sich im Einzelfall mit Altersnormwerten vergleichen, womit die Diagnose des Symptoms Lebervergrößerung auf ein sicheres Fundament gestellt wird.

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Literatur Rüter, 0.: Die

klinisch feststellbare Lebergröße und ihre Veränderung im Laufe der Kindheit. Dissertation, Saarbrücken 1968. Sachtleben, P., 0. Rüter: Die Leber-

Prof. Dr. P. Sachtleben Kinderklinik St. Elisabeth 8858 Neuburg

größe. Moderne Methoden der klinischen Bestimmung und Normalwerte für Kinder. Praxis 57 (1968), 1696. SeIsillo, W.: Die veränderung der Leberhöhe bei körperlicher Belastung. Dissertation, Saarbrücken 1974.

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Nr. 7, 17. Februar 1975, 103. Jg.

[What does hepatomegaly in childhood mean?].

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