Arztrecht in der Praxis | Commentary

„Whistleblowing“ in der Medizin: Spannungsfeld zwischen Denunziantentum und strafrechtlicher Haftung Whistle blowing in medicine: between the poles of informing and criminal liability

T. Oehler1 Arztrecht, Strafrecht

Einleitung ▼

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Seit Edward Snowden, der ehemalige Mitarbeiter der US-amerikanischen „National Security Agency“ (NSA) datenschutzrechtliche Missstände in unvorstellbarem Ausmaß öffentlich gemacht hat, ist der Begriff „Whistleblowing“ in aller Munde. Im Rahmen der medialen Präsenz dieses Themas deutet sich an, wie die Aufarbeitung von rechtswidrigen Gegebenheiten, die auch im medizinischen Umfeld vorkommen können, juristisch einzuordnen sind. Der folgende Beitrag stellt die Rechtsprechung zu Whistleblowing in der Medizin und den rechtlichen Umgang mit allfälligen Missständen anhand zweier realer Beispiele dar.

Definition von „Whistleblowing“ ▼ Die Parlamentarische Versammlung des Europarates versteht unter „Whistleblowing" eine Situation, in der die betroffene Person Alarm schlägt, um ein Fehlverhalten zu beenden, das andere Personen gefährdet [1]. „Whistleblowing“ sollte im gescheiterten Gesetzesentwurf legal definiert werden: als „gutgläubige Weitergabe von Informationen, insbesondere über widerrechtliche Handlungen, Fehlverhalten oder allgemeine Gefahren, die eine Bedrohung für Gesundheit, Leben, Freiheit, Umwelt oder andere berechtigte Interessen des Einzelnen oder der Gesellschaft sind“ [2]. Für die Gutgläubigkeit sollte ausreichend sein, im Zeitpunkt der Offenbarung der Überzeugung zu sein, dass die Informationen wahr sind [2].

Institut Advokaturbüro Oehler, Osnabrück eingereicht 30.07.2013 akzeptiert 05.09.2013 Bibliografie DOI 10.1055/s-0033-1360097 Dtsch Med Wochenschr 0 2014; 1390 : 444–447 · © Georg Thie0 me Verlag KG · Stuttgart · New York · ISSN 0012-04721439-4 13 Korrespondenz Rechtsanwalt Tim Oehler Berningstr. 1 a 49090 Osnabrück eMail [email protected]

„Whistleblowing“ betrifft nicht nur öffentliche Institutionen. Auch für Ärzte ist die Kenntnis um den Rechtsrahmen beim „Whistleblowing“ unabdingbar. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um einen freiberuflichen Praxisinhaber mit Angestellten handelt oder um angestellte Ärzte (z. B. Assistenzarzt, Oberarzt, Chefarzt) in Kliniken. Jedes Fachgebiet kann gleichermaßen betroffen sein. Nur exemplarisch sei der Fall von Hygienedefiziten genannt, für die ein Arzt verantwortlich zeichnet, die aber trotz seiner Hinweise nicht behoben werden. Daher ist die Kenntnis um Recht, aber auch Rechtsgrenzen für den „Whistleblower“ (Hinweisgeber) auf der einen Seite und Arbeitgeber auf der anderen Seite wichtig, weil es sich um Richterrecht und daher nicht geschriebenes Recht handelt. Im Februar 2013 erfolgte eine Beschlussempfehlung. Diese nahm Bezug auf die beisher eingereichten Gesetzesentwürfe und Anträge (Hinweisgeberschutz;

Whistleblower-Schutzgesetz; Bedeutung von Whistleblowing für die Gesellschaft anerkennen) und empfahl, diese nicht anzunehmen. Dadurch wurde zuletzt die Kodifizierung verhindert [4].

kurzgefasst Whistleblowing ist die „gutgläubige Weitergabe von Informationen, insbesondere über widerrechtliche Handlungen, Fehlverhalten oder allgemeine Gefahren, die eine Bedrohung für Gesundheit, Leben, Freiheit, Umwelt oder andere berechtigte Interessen des Einzelnen oder der Gesellschaft sind“ [2]. Auch das medizinische Umfeld kann von solchen Missständen betroffen sein; daher sind Kenntnisse um das Recht, aber auch die Rechtsgrenzen für den „Whistleblower“ (Hinweisgeber) auf der einen Seite und Arbeitgeber auf der anderen Seite unabdingbar.

Beispiele aus der Praxis ▼ Beispiel 1: Schadensersatzklage gegen Hinweisgeber Hintergrund des arbeitsrechtlichen Berufungsurteils des LAG Hamm [3] ist ein Rechtsstreit zwischen der Betreiberin eines Universitätsklinikums (Klägerin) einerseits und einer Herzchirurgin sowie deren Lebensgefährte andererseits um Schadensersatz wegen rückläufiger Patientenzahlen in der Klinik für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie. Die Herzchirurgin war auf eine Stiftungs-Professur „operative Therapie von angeborenen Herzfehlern, insbesondere im erwachsenen Alter, an der medizinischen Fakultät“ sowie als Chefärztin der Abteilung „Zentrum für Erwachsene mit angeborenen und erworbenen Herzfehlern“ des Universitätsklinikums berufen worden; sie sollte zudem in die Professur für „Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie“ in der medizinischen Fakultät eingewiesen werden. Dies hing allerdings davon ab, wann der bisherige Klinikdirektor in den Ruhestand eintrat. Zum selben zukünftigen Zeitpunkt sollte sie als Direktorin der Klinik und Poliklinik für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie (THG) eingestellt werden. Es kam zu Kontroversen zwischen dem bisherigen Klinikdirektor und weiteren ärztlichen Mitarbeitern der THG. Später ging der Herzchirurgin ein Schreiben zu, mit welchem die Klägerin das

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Nach einigen Monaten erhielt ein damaliger Minister des Landes Nordrhein-Westfalen ein Schreiben des Stiefvaters eines Arztes, der gemeinsam mit der Herzchirurgin arbeitete: Er verfüge über Informationen zu erhöhten Anzeigen von Komplikationen bis hin zu Todesfällen in der THG, die vom Klinikdirektor zu vertreten seien. Weiterhin schaltete die Herzchirurgin einen ihrer früheren Vorgesetzten ein, der schriftlich Vorwürfe gegenüber dem Klinikdirektor erhob. In Reaktion auf dieses Schreiben setzte das Ministerium eine Kommission zur Begutachtung der erhobenen Vorwürfe ein. Das Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass die ärztliche Patientenversorgung hinsichtlich Dokumentations-, Prozess- und Ergebnisqualität ordnungsgemäß wäre und die Qualität dieser Patientenversorgung insgesamt allgemein akzeptierten nationalen und internationalen Standards entsprechen würde. Weiterhin führte das Gutachten aus, dass die dargelegten Auffälligkeiten struktureller Art seien, den Verantwortlichen bekannt seien und die Behebung bereits eingeleitet worden sei. Die Patientenversorgung werde dadurch nicht gefährdet, sondern lediglich alltägliche Arbeitsabläufe würden behindert. Diese Fakten würden die Aussagen zur Qualität insgesamt nicht relativieren.“ Parallel hatte der Lebensgefährte der Herzchirurgin wiederholt anonyme Strafanzeigen gegen den Klinikdirektor sowie zum Teil auch weitere Personen zu Vorfällen in der THG erstattet, die ein Ermittlungsverfahren gegen das Universitätsklinikum auslösten und einen richterlichen Beschluss zur Durchsuchung zur Folge hatten. Die richterliche Entscheidung sprach von dem Vorliegen von Hinweisen, dass es infolge nicht sachgemäßer Herzoperationen durch den beschuldigten Klinikdirektor oder unter dessen Aufsicht bzw. dem Einsatz nicht erfahrener Operateure zu vermeidbaren Kunstfehlern gekommen sei. Auch stützte sich der richterliche Beschluss auf den Vorwurf der Manipulation von Krankenunterlagen. Die Staatsanwaltschaft Münster unterrichtete die Medien über die am selben Tag erfolgten Durchsuchungshandlungen in den Diensträumen und der Privatwohnung des Direktors.

Die THG als Klägerin machte u. a. aufgrund einer „verheerenden Presseberichterstattung“ wirtschaftliche Einbußen in Höhe eines Teilbetrags von 1,5 Millionen € geltend. Als Gesamtschaden wurden für den Zeitraum zumindest 3 339 290,00 € angeführt. Die von der Klägerin eingelegte Berufung gegen das erstinstanzliche arbeitsgerichtliche Urteil hatte keinen Erfolg. Einige Aspekte der Begründung sind im Folgenden zusammengefasst. I. Die Klägerin hatte keinen Schadensersatzanspruch gegen den Lebensgefährten aus unerlaubter Handlung (§ 823 BGB), Kreditgefährdung (§ 824 BGB) oder aus sittenwidriger vorsätzlicher Schädigung (§ 826 BGB). 1. Diese Anspruchsgrundlagen setzen gemeinsam voraus, dass zwischen dem Verhalten des Schädigers und der Rechtsbeeinträchtigung ein Kausalzusammenhang besteht. Dieser war vorliegend nicht gegeben. Der von der Klägerin geltend gemachte Schaden ging auf die Berichterstattung der Staatsanwaltschaft zurück. Das Gericht konnte nicht feststellen, dass anonyme Schreiben des Lebensgefährten an Patienten, an Angehörige von Patienten und an Angehörige von Ärzten unabhängig von der Pressearbeit der Staatsanwaltschaft zu einer Berichterstattung in den Medien geführt hätten. Auch ergab die Tatsachenfeststellung nicht, dass das Anschreiben des Lebensgefährten unmittelbar an Medien zu einer Presseveröffentlichung geführt hätten. 2. Die Erstattung einer Anzeige bei der Polizei oder bei der Staatsanwaltschaft begründet nur unter besonderen Voraussetzungen eine Schadensersatzverpflichtung des Anzeigeerstatters. Laut dem Bundesarbeitsgericht gilt folgendes: Der Arbeitnehmer, der gegen seinen Arbeitgeber eine Strafanzeige erstattet, nimmt grundsätzlich ein staatsbürgerliches Recht wahr. Für die Frage, ob die Erstattung der Strafanzeige einen Kündigungsgrund bilden kann, kommt es nicht entscheidend darauf an, ob die Anzeige zu einer Verurteilung geführt hat oder nicht. Es ist gerade der Sinn der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, die bei Anzeigeerstattung notwendigerweise offene Frage der Tatbegehung erst zu klären. Eine Strafanzeige ist vor diesem Hintergrund in der Regel nur dann nicht mehr als berechtigt anzusehen, wenn der Arbeitnehmer schon bei der Erstattung

der Anzeige weiß, dass der erhobene Vorwurf nicht zutrifft, oder dies jedenfalls leicht erkennen kann oder einen unverhältnismäßigen Gebrauch von seinem Recht macht [5]. Eine vergleichbare Rechtsauffassung stellte der europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) auf, als er ein Urteil zur Problematik des „Whistleblowing“ zu einem deutschen Kündigungsschutzurteil verkündete. Danach stellte die von den deutschen Gerichten für wirksam befundene Kündigung einen (unzulässigen) Eingriff in das Recht der gekündigten Arbeitnehmerin auf Freiheit der Meinungsäußerung dar, weil die Strafanzeigen der Arbeitnehmerin einen tatsächlichen Hintergrund gehabt hatten und nicht wissentlich oder leichtfertig falsch gewesen waren. Auch der EGMR betonte das öffentliche Interesse an der Aufklärung von Missständen und hob darauf ab, ob bei der Anzeigeerstattung wissentlich unwahre oder leichtfertig falsche Angaben gemacht worden sind [6]. Das Bundesverfassungsgericht legte dar, dass es gegen Art. 2 Abs. 1 GG und das Rechtsstaatsprinzip verstößt, wenn das Schadensersatzrecht so gehandhabt wird, dass der gutgläubige Strafanzeigeerstatter mit dem Risiko des Schadensersatzes für den Fall belastet wird, dass seine Anzeige nicht zum Beweis des behaupteten Vorwurfs führt [7]. Auch die Rechtslehre schließt sich dem an und geht davon aus, dass eine nicht wissentlich unwahr oder leichtfertig ohne erkennbaren Grund erstattete Strafanzeige in einem rechtsförmlichen Verfahren erfolgt. Sie ist deshalb nicht rechtswidrig und begründet keine Schadensersatzverpflichtung. Das Landesarbeitsgericht Hamm schloss sich dem an und konnte nicht feststellen, dass bei Anzeigeerstattung aus Laiensicht oder gar unter Einsatz ärztlichen Sachverstands erkennbar gewesen wäre, dass die erhobenen Vorwürfe nicht begründet waren. 3.  Das Gericht konnte nicht feststellen, dass die Strafanzeige leichtfertig erhoben worden wäre. Die Klägerin ging nicht auf Einzelheiten des Operationsgeschehens ein. Dies war unzureichend. Es reichte nicht ein allgemein gehaltener Hinweis darauf, dass das Ermittlungsverfahren gegen den Klinikdirektor von der Staatsanwaltschaft wegen erwiesener Unschuld eingestellt worden sei. Nach An-

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Arbeitsverhältnis aufkündigte. Die Herzchirurgin erhob Kündigungsschutzklage. Man einigte sich schließlich in einem Vergleich.

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sicht des Obergerichts konnte insbesondere vor dem Hintergrund, dass parallel zur Tätigkeit der Kommission in Details Verbesserungen der medizinischen Standards aufgrund von strukturellen Auffälligkeiten eingeleitet wurden, keine unbedachte und vorschnelle Erhebung der Strafanzeige bejaht werden 4.  Eine bewusste Wahrheitswidrigkeit oder Leichtfertigkeit ließ sich auch nicht daraus herleiten, dass die Wortwahl teils polemisch und teils mit Verunglimpfungen versehen war. Denn für den richterlichen Beschluss waren nicht die polemischen Formulierungen und die Verunglimpfungen ausschlaggebend, sondern die bei der Staatsanwaltschaft vorliegenden Anhaltspunkte für nicht sachgemäße Herzoperationen. II. Die Betreiberin des Universitätsklinikums hatte auch aus denselben Erwägungen gegen die Herzchirurgin keinen Schadensersatzanspruch. Daran änderte weder etwas, dass die Herzchirurgin in einem Arbeitsverhältnis gestanden hatte noch dass sie – im Gegensatz zu ihrem Lebensgefährten – über profundes medizinisches Wissen verfügte. Vom Standpunkt ärztlichen Sachverstands konnte nicht davon gesprochen werden, dass die Anzeigen wider besseres Wissen oder leichtfertig erstattet wurden. Aus diesem Urteil ergibt sich in Fortführung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Grundsatz, dass das Schadensersatzrecht nicht so gehandhabt werden darf, dass der gutgläubige Strafanzeigeerstatter mit dem Risiko des Schadensersatzes für den Fall belastet wird, dass seine Anzeige nicht zum Beweis des behaupteten Vorwurfs führt. Derjenige, der in gutem Glauben und nicht leichtfertig ohne erkennbaren Grund eine Strafanzeige erstattet hat, darf nicht Nachteile dadurch erleiden, dass sich seine Behauptung nach behördlicher Prüfung als unrichtig oder nicht aufklärbar erweist. Nach diesem Grundsatz blieb die Schadensersatzklage des Krankenhauses gegen die dort beschäftigte Herzchirurgin und deren Lebensgefährten ohne Erfolg. Das Krankenhaus hatte seine Ersatzforderung damit begründet, dass es durch die von den beiden Personen anonym erstatteten Strafanzeigen, die deshalb durchgeführte staatsanwaltschaftliche Durchsuchung und die anschließende „Pressekampagne“ geschädigt worden

sei, weil die noch am Tag der Durchsuchung erfolgte Unterrichtung der Medien durch die Staatsanwaltschaft zu einer „verheerenden Berichterstattung“ geführt habe und zu einem gegenüber den Vorjahren signifikanten Absturz der Zahl der Operationen und der Behandlungsfälle. Nach dem unterbreiteten Sachverhalt war nicht festzustellen, dass die Anzeigen wider besseres Wissen oder leichtfertig ohne erkennbaren Grund erstattet worden waren.

kurzgefasst Wer in gutem Glauben und nicht leichtfertig ohne erkennbaren Grund eine Strafanzeige erstattet hat, darf nicht Nachteile dadurch erleiden, dass sich seine Behauptung nach behördlicher Prüfung als unrichtig oder nicht aufklärbar erweist.

Beispiel 2: Kündigung wegen „unverhältnismäßiger Reaktion“ In dem oben geschilderten Fall sprach die „polemische“ Wortwahl unter anderem für eine emotionale Reaktion der Anzeigeerstatter auf die Geschehnisse in der Klinik. Dies ließ die erforderliche Reflexion vermissen und mündete schlussendlich in die latente Gefahr einer schadensersatzintensiven Haftung. Das Verkennen der Grundsätze bei „Whistleblowing“ kann für den Hinweisgeber nicht nur die Haftung für verursachte Schäden bedeuten, sondern auch eine Kündigung. So erging es einer Chefärztin in einer Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe, die bei einem Landkreis eine Stelle angetreten hatte. Die Chefärztin hatte sich bei der Krankenhausleitung über schwerwiegende Behandlungsfehler und unterlassene Patientenaufklärung durch ihren Stellvertreter, einen Oberarzt, beschwert. Sie schrieb der Krankenhausleitung, das Vertrauensverhältnis sei auf das Schwerste gestört. Der Oberarzt sei lediglich noch in nachgeordneter Funktion als Weiterbildungsassistent oder als Funktionsarzt einsetzbar. Der Landkreis sah das Vorgehen der Chefärztin als völlig unangemessen an. Der Landkreis rügte die mangelnde Sozialkompetenz und kündigte das Arbeitsverhältnis noch in der Probezeit auf. Die von der Chefärztin dagegen erhobene arbeitsrechtliche Kündigungsschutzklage hatte in der Berufung vor dem Landesarbeitsgericht keinen Erfolg mehr. Das Landesarbeitsgericht hatte die Kündigung nicht als willkürlich eingestuft. Un-

abhängig von der Frage, ob die gegenüber dem Oberarzt erhobenen Vorwürfe berechtigt gewesen seien, habe die Chefärztin „die bei der Lösung der deutlich erkennbaren Konfliktlage erforderliche kritische kühle Distanz“ vermissen lassen. Das Landesarbeitsgericht ließ die Revision nicht zu. Dagegen richtete sich die Chefärztin erfolglos vor dem Bundesarbeitsgericht mit einer Beschwerde gegen die Nichtzulassung des Rechtsmittels der Revision [8]. Die zuvor angedeutete rechtliche Ausgangslage hat das Bundesarbeitsgericht nunmehr in Fortführung der Rechtsprechung des EGMR für Kündigungen konkretisiert, und zwar für den externen und den innerbetrieblichen Bereich. Im Fall der Erstattung von Anzeigen bei Strafverfolgungsbehörden oder anderen zuständigen Stellen („Whistleblowing“) kann eine vertragswidrige Pflichtverletzung auch dann vorliegen, wenn der Arbeitnehmer die Anzeige erstattet, ohne dabei wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben zu machen. Eine Anzeige kann – unabhängig vom Nachweis der mitgeteilten Verfehlung und ihrer Strafbarkeit – dann ein Grund zur Kündigung sein, wenn sie sich als eine unverhältnismäßige Reaktion auf das Verhalten des Arbeitgebers oder eines seiner Repräsentanten darstellt. Dabei weist das Bundesarbeitsgericht explizit darauf hin, dass das Urteil des EGMR eben nicht entgegenstehe. Skizzenhaft haben die obersten Richter entschieden, diese Grundsätze auch auf den innerbetrieblichen Bereich zu übertragen. Dabei gilt, dass nicht nur oberhalb der Schwelle eines strafbaren Verhaltens, sondern auch unterhalb dieser Schwelle ein Arbeitnehmer bei der Mitteilung vermeintlicher Missstände im Betrieb angemessen auf Persönlichkeitsrechte seiner Arbeitskollegen und Vorgesetzten Rücksicht nehmen muss [10].

kurzgefasst Eine Anzeige kann unabhängig vom Nachweis der angezeigten Verfehlung und ihrer Strafbarkeit ein berechtigter Grund zur Kündigung sein, wenn sie sich als eine unverhältnismäßige Reaktion auf das Verhalten des Arbeitgebers oder eines seiner Repräsentanten darstellt.

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Für angestellte Ärzte sind die dargestellten Rechtsgrundsätze deswegen so wichtig, weil die Rechtsprechung des EGMR als Zäsur bei der Rechtsinterpretation und Plazet für „Whistleblowing“ betrachtet wird. Diese Rechtsauslegung in Urteilskommentierungen ist insoweit unzutreffend, als dass die Arbeitsgerichte dieses Urteil lediglich als Fortentwicklung der bisherigen Rechtsprechung ansehen. Nur folgerichtig wurde damit die bisherige Rechtsprechung nicht aufgegeben. Um einen Freibrief für „Whistleblowing“ handelt es sich daher mitnichten. Für Arbeitgeber (Praxisinhaber oder Kliniken) zeigt die Rechtsentwicklung die rechtliche Zulässigkeit von „Whistleblowing“ und die arbeitsrechtlichen Grenzen für Hinweisgeber auf. „Whistleblowing“ kann sich für den leitenden Arzt einer Klinik unter Umständen als letzter Ausweg darstellen. Denn der Fehler kann bei einem Arzt mit Leitungsaufgaben auch in einem Organisationsverschulden liegen [11]. Es kann unzureichend sein, wenn ein Arzt mit Leitungsaufgaben auf Missstände erfolglos hinweist. Dann kann von ihm bedingt zu erwarten sein, dass er sich zur Behebung dieser Missstände an externe Stellen wendet. Unterlässt er dies, kommt eine Strafbarkeit wegen Unterlassens (z. B. Körperverletzung [§ 223 StGB] oder fahrlässige Tötung [§ 222 StGB]) gemäß § 13 StGB in Betracht, wenn Patienten zu Schaden kommen. Aus diesem Grunde ist auf die von „Transparency International“ herausgegebene Checkliste für Hinweisgeber aufmerksam zu machen [12]: Checkliste für Hinweisgeber (nach [12]) 3 Haben Sie alles ausreichend geprüft? 3 Mit wem in ihrem Umfeld könnten Sie die Beobachtung teilen? 3 Was motiviert Sie? Was wollen Sie damit erreichen? 3 Warum können Sie die entsprechenden Personen nicht direkt ansprechen? 3 Haben Sie Risiken, die Ihnen durch Ihr Vorhaben entstehen könnten, sorgfältig abgewogen? 3 Brauchen Sie noch Rat oder einen Gesprächspartner, mit dem Sie nochmals alles durchgehen können? 3 Wären Sie bereit Ihren Hinweis auch unter Ihrem Namen abzugeben?

Wichtig ist vor allem, mögliche Risiken sorgfältig zu prüfen und mit anderen zu besprechen bzw. um fachmännischen Rat zu bitten. So kann es sich anbieten, die medizinische Expertise eines befreundeten Kollegen einzuholen. Dieser kann möglicherweise einschätzen, ob die Kritik bezüglich der Einhaltung medizinischer Standards haltbar ist oder nicht. Ferner kann der Gedankenanstoß von „Transparency International“ nützlich sein, sich anwaltlichen Rat im Vorfeld einzuholen. Neben arbeitsrechtlichen Konsequenzen wie einer Kündigung oder Schadensersatz geht es auch um strafrechtliche Erwägungen. Diese erwachsen nicht nur aus dem zuvor angedeuteten Verstoß gegen Handlungspflichten (Unterlassen), sondern auch aus der Gefahr einer „Überreaktion“. Spiegelbildlich kann sich der die Anzeige erstattende Arzt nämlich auch wegen Falschverdächtigung (§ 164 StGB) oder Vortäuschens einer Straftat (§ 145 Buchst. d StGB) strafbar machen. Vielleicht – aber dies auszuführen würde den Rahmen dieses Artikels sprengen – sollte in Kliniken und Arztpraxen auch über die Einrichtung eines Whistleblowing-Systems nachgedacht werden, das den Schritt an die Öffentlichkeit verhindert.

Konsequenz für Klinik und Praxis

Literatur 1 Entschließung 1729 (2010) zitiert bei EGMR, Urteil vom 21.07.2011 – 28274/08 2 BT-Drs 17/6492, S. 3; BT-Drs 17/8567: Hinweisgeberschutzgesetz; BT-Drs 17/9782: Whistleblower-Schutzgesetz; BT-Drs 17/6492: Bedeutung von Whistleblowing für die Gesellschaft anerkennen 3 LAG Hamm. Urteil vom 21.7.2011 – 11 Sa 2248/10. 4 BT-Drs 17/12577, S. 1 5 BAG. Urteil vom 07.12.2006 – 2 AZR 400/05: Verhaltensbedingte Kündigung – Strafanzeige gegen Arbeitgeber; BAG, Urteil vom 03.07.2003 – 2 AZR 235/02 – Kündigung wegen Strafanzeige 6 EGMR. Urteil vom 21.07.2011 – 28274/08: Fristlose Kündigung wegen Offenlegung von Pflegemissständen verletzt Meinungsfreiheit. 7 BVerfG. Beschluss vom 25.02.1987 – 1 BvR 1086/85; BVerfG, Beschluss vom 02.07.2001 – 1 BvR 2049/00 8 BAG. Beschluss vom 18.5.2004– 9 AZN 653/03 9 so auch LAG Köln, Urteil vom 2.2.2012 – 6 Sa 304/11: Urteil des EGMR lediglich Fortentwicklung der bisherigen Rechtsprechung 10 BAG. Urteil vom 27.9.2012– 2 AZR 646/11 11 BGH. Urteil vom 1.2.1994– VI ZR 65/93: Organisationspflichten des Chefarztes einer Kinderklinik 12 Transparency International. Hinweise für Hinweisgeber. http://www.transparency.de/Hinweise-fuer-Hinweisgeber.1131.0.html (letzter Zugriff 3.2.2014)

3Dokumentieren Sie sorgfältig die „Missstände“ (z.B. Datum, Uhrzeit, Patient, wahrgenommene Details, Zeugen). 3 Holen Sie sich professionellen Rat ein: Lassen Sie die Wahrung medizinischer Standards durch einen diskreten Kollegen bewerten; gehen Sie zu einem Anwalt, um Ihre rechtlichen Pflichten, Haftungsfragen und weitere Schritte zu klären. 3 Sie unterliegen der ärztlichen Schweigepflicht und der Treuepflicht gegenüber Ihrem Arbeitgeber: Grundsätzlich haben interne Meldungen Vorrang gegenüber medialen Mitteilungen 3Seien Sie nicht vertrauensselig gegenüber Journalisten: Diese interessieren sich für eine „gute Story“, nicht jedoch für Ihre Zukunft!

Autorenerklärung: Der Autor erklärt, dass er nicht als Rechtsanwalt oder sonstiger Verfahrensbeteiligter an den Gerichtsentscheidungen beteiligt war.

Dtsch Med Wochenschr 2014; 139: 444–447 · T. Oehler, „Whistleblowing“ in der Medizin …

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