Gutachten + Recht 39

Aus der Gutachtenpraxis: Wann sind Hörverluste im Hochtonbereich bei pantonaler Schwerhörigkeit Folge beruflicher Lärmexposition? Häufige Fehlbeurteilung von Gutachtern, Beratungsärzten und Be­ru­fs­ge­no­ss­en­sc­haften

T. Brusis

Einleitung



Die berufliche Lärmschwerhörigkeit zeigt anerkanntermaßen einen typischen Kurvenverlauf. Seit Jahrzehnten gilt eine Hochtonsenke (c5-Senke) als das typische Merkmal einer Lärmschwerhörigkeit. Schreitet die Schwerhörigkeit – bei ungeschützter Exposition – weiter fort, kann sich die Senke vertiefen und verbreitern. Nach jahrzehntelanger hoher Lärmexposition sind auch leichte Hörverluste im Tieftonbereich denkbar, maximal 20– 30 dB. Extremer Berufslärm kann bei jahrelanger Exposition höchstens zu einer mittelgradigen Schwerhörigkeit führen. Ein solches Ausmaß ist bei den heutigen Lärmbelastungen in der Arbeitswelt ­jedoch nicht mehr vorstellbar [1]. Liegt aber ein Kurvenverlauf vor, der nicht mit dem Bestehen einer Lärmschwerhörigkeit vereinbar ist, dann ist von einer außerberuflichen Schwerhörigkeit auszugehen. Bei einer symmetrischen pantonalen Schwerhörigkeit handelt es sich um eine degenerative bzw. endogene Schwerhörigkeit, d.  h. eine ätiologisch ungeklärte Schwerhörigkeit aus „eigener“ Ursache. In solchen Fällen ist das Vorliegen einer Lärmschwerhörigkeit – auch nach jahrelanger erheblicher Lärmbelastung – eindeutig abzulehnen. Wenn es aber Hinweise auf eine bifaktorielle Schwerhörigkeit gibt, muss der Gutachter versuchen, eine Abgrenzung zwischen lärmbedingter und nicht lärmbedingter Schwerhörigkeit vorzunehmen. Dies ist jedoch nur möglich, wenn sich eine bifaktorielle Schwerhörigkeit eindeutig aus dem Kurvenverlauf ergibt (z.  B. eindeutige Hochtonsenke, kein Schrägabfall) und zusätzlich ungewöhnliche Hörverluste im Tieftonbereich vorliegen oder wenn sich eine eindeutige

Lärmschwerhörigkeit nach Ende der beruflichen Lärmbelastung (z. B. durch Arbeitsplatzwechsel oder Berentung) eindeutig verschlimmert. In vielen Fällen ist eine solche Abgrenzung nicht möglich, entweder weil es sich eindeutig nur um eine monosymptomatische außerberufliche Schwerhörigkeit handelt oder weil es keine audiometrischen Vorbefunde gibt. In solchen Fällen neigen manche Gutachter dazu, in den Hochtonbereich gedanklich eine Hochtonsenke zu projizieren und schlagen der Berufsgenossenschaft vor, die Hörverluste im Hochtonbereich als Lärmfolge anzuerkennen. Ein solches Vorgehen ist nicht gerechtfertigt und führt in der Folge zu erheblichen Problemen bei Leistungsanträgen (z. B. bei einer Hörgeräteversorgung).

Fallbericht 1



K., E., 81 Jahre, Weber

Der inzwischen 81-jährige Kläger hatte von 1948 bis 1996, fast 48 Jahre, als Weber, Verrichter und Webermeister bei Tageslärmexpositionspegeln von 90 bis 92 dB (A) gearbeitet, aber erst in den letzten 20 Jahren Gehörschutz getragen. Während der Tätigkeit waren regelmäßig arbeitsmedizinische Untersuchungen durchgeführt worden, zuletzt 1996, am Ende der beruflichen Tätigkeit. Alle Tonaudiogramme hatten übereinstimmend eine lärmtypische Senkenbildung oberhalb 2 000 Hz bis auf 55–60 dB im Sinne einer beginnenden Schwerhörigkeit ergeben. Nach der Berentung 1996 – bis heute – hatte der Kläger eine weitere Zunahme der Schwerhörigkeit bemerkt. Der BG-Gutachter hatte 2013 eine hochgra­ dige Innenohrschwerhörigkeit beider Ohren festgestellt und diese als außerberuf-

Verantwortlich für diese Rubrik: Prof. Dr. T. Brusis und Dr. A. Wienke

lich bewertet, da eine Lärmschwerhörigkeit nach Ende der Lärmexposition nicht weiter zunehmen kann [2]. Da das Tonaudiogramm von 1996 eine beginnende lärmtypische Senkenbildung im Hochtonbereich gezeigt hatte, war dieser von einer anteiligen Lärmschwerhörigkeit im Sinne einer beginnenden Lärmschwerhörigkeit ausgegangen. Die Gesamt-MdE hatte der Vorgutachter auf 50 % und die lärmbedingte MdE auf unter 10  % geschätzt. Im Bescheid der BG von 2013 wurde eine Berufkrankheit nach Nr. 2301 der BKV (Lärmschwerhörigkeit) dem Grunde nach anerkannt. Weiter heißt es darin, dass ein Anspruch auf Rente oder Hörgeräteversorgung nicht bestehe. Bei gleichen Befunden konnten wir dem Vorgutachter in  ▶  Abb. 1). ­einem SG-Verfahren zustimmen (●

Beurteilung



Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine bifaktorielle Schwerhörigkeit, die Schwerhörigkeit ist nur zu einem geringen Teil, wie die Hochtonsenke von 1996 zeigt, lärmbedingt. Der überwiegende Anteil hat außerberufliche Ursachen. Nur wenn audiometrische Vorbefunde mit einer eindeutigen Lärmschwerhörigkeit vorliegen, dann ist in einem solchen Fall eine Lärmschwerhörigkeit abgrenzbar, wenn diese auch im vorliegenden Fall nur gering gewesen ist. Hätte das Tonaudiogramm von 1996 nicht vorgelegen, dann wäre von einer sog. objektiven Bewei­ s­ losigkeit auszugehen. In solch einem Fall wäre es „wahrscheinlich“ gewesen, dass es sich immer um eine außerberufliche, d. h. degenerative Schwerhörigkeit gehandelt hätte.

Fallbericht 2



D., A., 52 Jahre, Produktionsarbeiter

Der Kläger hatte von 1982 bis 2006, ca. 25 Jahre, Arbeiten in einem Automobilzube-

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From the Expert’s Office: When is a Hearing Loss in the High Tone Range with Coexisting Hearing Loss in all Frequencies Consequence of Professional Noise Exposure? Frequent False Evaluation of Consultants, Consulting Physicians and Professional Unions

40 Gutachten + Recht ren Gutachtern für das Sozialgericht (02/2014) wurde wiederum eine hochgradige Schwerhörigkeit rechts und eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit links diagnostiziert. Die beiderseitige Schwerhörigkeit wurde als „überwiegend lärmunabhängig, insbesondere im Tiefund Mitteltonbereich“ bezeichnet. Auch diese Gutachter schlugen vor, als BK-Folge „eine MdE von unter 10 % anzuerkennen“  ▶  Abb. 2). (●

Beurteilung



Weder aus dem tonaudiometrischen Bild noch aus audiometrischen Vorbefunden ergaben sich in diesem Fall Hinweise darauf, dass die Schwerhörigkeit zu einem gewissen Teil Folge beruflicher Lärmeinwirkung war. Die Gutachter hätten ausführen müssen, dass kein Lärmanteil besteht bzw. hätten die lärmbedingte MdE mit 0 % angeben müssen. Dies wäre eindeutiger gewesen. Da die Gutachter in beiden Verfahren eine gewisse Möglichkeit einer Teilschädigung durch Lärm offen ließen (MdE unter 10 %), hatte die Berufsgenossenschaft eine Berufskrankheit nach Nr. 2301 der BKV in Form einer beiderseitigen Hörstörung im Hochtonbereich anerkannt. Diese Bescheiderteilung führte dann dazu, dass der Kläger das Verfahren weiter betrieb und insbesondere eine Hörgeräteversorgung durch die Berufsgenossenschaft verlangte.

Fazit



Abb. 1  Degenerative Schwerhörigkeit mit geringer Lärmkomponente im Hochtonbereich.

Abb. 2  Degenerative Schwerhörigkeit ohne Lärmkomponente.

Eine pantonale Innenohrschwerhörigkeit ist absolut untypisch für das Vorliegen einer Lärmschwerhörigkeit. Eine anteilige Lärmschwerhörigkeit kann nur dann diag­ nostiziert werden, wenn es entsprechende Befunde gibt, wie eine Hochtonsenke in früheren hno-ärztlichen oder arbeitsmedizinischen Befunden. Liegen solche Befunde nicht vor, dann ist es nicht nachvollziehbar, die Hörverluste im Hochtonbereich als lärmbedingt zu interpretieren. Ein solches Vorgehen wäre rein spekulativ, da es wahrscheinlich ist, dass es sich immer um eine ausschließlich degenerative Schwerhörigkeit gehandelt hat [3]. Aufgrund von versicherungsrechtlichen Überlegungen ist davon auszugehen, dass in den beiden Fällen eine außerberufliche Schwerhörigkeit im Vollbeweis nachgewiesen ist. Eine Lärmschädigung der Innenohren ist jedoch keine zwangsläufige Schädigung, die jeden Lärmarbeiter betrifft. Eine Lärmschädigung der Innenohren tritt nur bei einem kleinen Teil der Lärmexponierten auf. Wenn keine entsprechenden Vorbefunde vorhanden sind, beruht die Annahme einer Lärmschädigung im Hochtonbereich auf einer reinen Spekulation. Dafür gibt es jedoch in der gesetzlichen Unfallversicherung keinen Platz. Erstaunlicherweise folgen viele Berufsgenossenschaften derartigen Fehldiagnosen und erkennen eine lärmbedingte Hörstörung im Hochtonbereich an, wenn der Gutachter die lärmbedingte

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hörbetrieb an Pressen verrichtet. Bei der ersten Begutachtung für die Berufsgenossenschaft 05/2012 hatten die Gutachter rechts eine hochgradige Schwerhörigkeit und links eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit mit erheblichem Tiefton­ anteil diagnostiziert und die Schwerhörigkeit überwiegend als degenerativ bzw. außerberuflich eingestuft. Andererseits führten sie aus, dass die lärmbedingte MdE unter 10  % betragen würde und empfahlen der Berufsgenossenschaft, „als Folge der Lärmexposition“ die lärmbedingte MdE auf unter 10 % festzusetzen. In einem weiteren Gutachten von ande-

Gutachten + Recht 41 metrische Vorbefunde gibt. Liegen diese nicht vor, dann ist es im unfallversicherungsrechtlichen Sinn wahrscheinlich, dass es sich immer um eine außerberufliche Schwerhörigkeit gehandelt hat. Die theoretische Vorstellung, dass in der Gesamtschwerhörigkeit ein lärmbedingter Anteil in solchen Fällen enthalten ist, ist rein spekulativ und nicht begründbar. Prof. Dr. T. Brusis  Institut für Begutachtung  Dürener Straße 199-203  50931 Köln  [email protected]

Literatur

1 Brusis T. Aus der Gutachtenpraxis: Hörverluste im Tief- und Mitteltonbereich bei Lärmschwerhörigkeit? Laryngo-Rhino-Otol 2014; 93: 197–200 2 Brusis T. Aus der Gutachtenpraxis: Eine Lärmschwerhörigkeit kann sich nach Ende der Lärmexposition nicht weiter verschlimmern!. Laryngo-Rhino-Otol 2010; 89: 666– 668 3 Brusis T. Aus der Gutachtenpraxis: Kausalitätsprobleme bei der Abgrenzung zwischen beruflicher und außerberuflicher Schwerhörigkeit. Laryngo-Rhino-Otol 2009; 88: 45–47

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MdE auf unter 10 % geschätzt hat. Dies ermutigt dann viele Versicherte, eine Hörgeräteanpassung von der zuständigen Berufsgenossenschaft zu verlangen, was immer wieder zu heftigen gutachterlichen und juristischen Auseinandersetzungen führt. Aus diesem Grund erscheint es in einem derartigen Fall besser, die lärm­ bedingte MdE mit 0  % einzuschätzen, wenn es keine objektiven Hinweise für einen Lärmanteil gibt! Bei der Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit fallen immer wieder Formen der Innenohrschwerhörigkeit mit einer pantonalen Hörverlustkurve auf, die keine Hinweise auf eine Lärmschwerhörigkeit zeigt. Ein Lärmanteil ist jedoch nur dann abgrenzbar, wenn es entsprechende audio­

Brusis T. Aus der Gutachtenpraxis: Wann …  Laryngo-Rhino-Otol 2015; 94: 39–41 ∙ DOI  10.1055/s-0034-1395511

[From the expert's office: When is a hearing loss in the high tone range with coexisting hearing loss in all frequencies consequence of professional noise exposure? Frequent false evaluation of consultants, consulting physicians and professional unions].

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