Klinische Wochenschrift

Klin. Wochenschr.56, 1195-1204 (1978)

© Springer-Verlag 1978

Obersichten Pharmakokinetische Bedeutung der Proteinbindung H. Kurz PharmakologischesInstitutder UniversitiitM~nchen

Pharmaco-Kinetic Aspects of Protein-Binding Summary. Binding of drugs to plasma proteins will influence distribution and elimination especially if factors interfere altering the extent of binding. These factors are: dependence on species, age, H+-concen tration, speed of i.v. injection or the interaction of another drug for instance. Considering the quantitative aspects changes in binding to the plasma proteins will turn only then relevant to drug action if the extent of alteration is very large or the drugs are bound to a very high degree. But the scene changes completely if the binding to other proteins of the organism is considered. Experimental results concerning the binding of drugs to hemoglobin and muscle tissue suggest that this kind of binding is possibly more effective in pharmacokinetics than binding to plasma proteins.

Key words: Protein binding - Hemoglobin - Muscle tissue - Pharmacokinetics.

Zusammenfassung. Auswirkungen der Bindung von Arzneimitteln an Plasmaproteine auf die Pharmakokinetik sind vor allem dann zu erwarten, wenn Faktoren wirksam werden, die das Ausmag der Bindung ver~indern. Wichtige Beispiele daftir sind die Artspezifit/it der Bindung, der Einflul3 yon Alter, der tt +Konzentration, der Injektionsgeschwindigkeit und der Wechselwirkung durch ein zweites gleichzeitig verabreichtes Arzneimittel. Quantitative Oberlegungen zeigen jedoch, dab die Auswirkungen der Bindungs~inderungen an Plasmaproteinen nur dann fiir die Wirkung relevant werden, wenn diese )~nderungen sehr grol3 sind, oder die Arzneimittel in besonders hohem Mage an die Plasmaproteine gebunden werden. Dies gilt nicht, wenn eine Bindung von Arzneimitteln an andere Proteine im Organismus mit berticksichtigt wird. Untersuchungsergebnisse zur Bin-

dung yon ArzneimitteIn an H/imoglobin und an Muskelgewebe weisen darauf hin, dab dieser Bindungsart u.U. eine gewichtigere Bedeutung zukommt als der Bindung an Plasmaproteine.

Schliisselwiirter: Proteinbindung - H/imoglobin Muskelgewebe -- Pharmakokinetik.

Ober die Bindung yon Arzneistoffen an Proteine im Organismus und die Methoden zu ihrer Bestimmung liegen bereits umfangreiche Untersuchungen vor [26, 81, 67, 50, 21, 29, 83, 63, 47, 15, 62, 89]. Dagegen hat die Proteinbindung bei Oberlegungen zur Verteilung von Arzneistoffen erst in den letzten Jahren zunehmendes Interesse erweckt [52, 65, 84, t7, 44, 18, 80, 24, 90]. Dies iiberrascht, denn seit der Tfibinger Internist Bennhold [10] seine grundlegenden Mitteilungen fiber die Bindungseigenschaften yon Plasmaproteinen ver6ffentlichte und dabei bereits auf ihre Vehikelfunktion hinwies, sind schon fast 40 Jahre vergangen. Zwar findet man inzwischen in allen Lehrbfichern schon entsprechende Kapitel fiber Proteinbindung, doch ist darin im wesentlichen yon der Bindung an Plasma die Rede. Die Bindung an andere Proteine im Organismus wird meist nur nebenbei erwfihnt. Dadurch kann der Eindruck entstehen, dab diese Bindungsart weniger wichtig wfire. Der folgende Bericht solI zeigen, dab dies nicht berechtigt ist, und dab u.U. der Bindung an Gewebeproteine eine gr6gere Bedeutung zukommt als der Bindung an Plasmaproteine.

Auswirkungen der Bindung an Plasmaproteine Die Auswirkungen der Bindung auf das pharmakokinetische Verhalten yon Arzneistoffen sind vor allem

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H. Kurz: Proteinbindung REZEPTOR

JF NICHT GEBUNDEN BIOTRANSFORMATION

GEWEBE ,,. DEPOT NICHT GEBUNDEN

T AUFNAHME

AUSSCHEIDUNG

Abb. 1. Das Plasma als ,,Umschlagplatz" ffir Arzneimittel

durch die Gr6Be der beteiligten Proteinmolektile bedingt. Wfihrend die meisten Arzneistoffe ein Molekulargewieht zwischen 200 und 400 haben, liegen die Molekulargewichte der Proteine um 2 - 3 Zehnerpotenzen h6her. So betr/igt das Molekulargewicht des Plasmaalbumins 69000, der Globuline 44000900000 und des Myosins 500000. Der aus dem Arzneistoff und dem Protein entstandene Komplex hat die Gr6Be eines Makromotekfils. Seine Verteilung im Organismus ist stark eingeschr/inkt, da er biologische Membranen nicht passieren kann. Das hat folgende Konsequenzen : 1. Der gebundene Anteil kann den intravasalen Raum praktisch nicht mehr verlassen und dadurch nicht zu den Rezeptoren im Gewebe kommen. Dieser Anteil ist daher pharmakologisch nicht wirksam. 2. Der gebundene Anteil kann nicht mehr zu den intrazellul/iren Enzymen der Biotransformation gelangen, und 3. der gebundene Tell kann im Glomerulus der Niere nicht filtriert werden. Die letzten beiden Faktoren mfissen daher zu einer Verlangsamung der Elimination ftihren. Schliel31ich wird das Plasma wegen seines Bindungsverm6gens auch als ,,Umschlagplatz" ffir Arzneistoffe bezeichnet (s. Abb. 1), weft diese dort in hoher Konzentration gebunden, d.h. in unwirksamer Form vorhanden sein k6nnen. Wegen des bestehenden Gleichgewichtes mit dem freien Anteil stehen sie aber jederzeit zur Abgabe an den Wirkort, an Gewebedepots, zur Biotransformation und zur Ausscheidung zur Verfiigung.

Bindungsfinderungen Wenn es zutrifft, dab der gebundene Anteil keine Wirkung besitzt, dann mtil3te die Proteinbindung bei jeder Anwendung eines Arzneistoffes berficksichtigt werden. Die folgende lJberlegung zeigt, dab dies nicht

obligatorisch sein muB. Wenn von zwei Arzneistoffen mit gleicher Wirkung der eine nicht, der andere jedoch zu 50% an Proteine gebunden ist, dann w/ire anzunehmen, dab der gebundene Arzneistoff nur halb so wirksam ist wie der nicht gebundene. Bei der Anwendung yon Arzneistoffen werden jedoch empirisch ermittelte Gebrauchsdosen benutzt. Da sich f/Jr den zu 50% gebundenen Arzneistoff empirisch eine doppelt so grol3e Dosis ergibt wie ffir den nicht gebundenen Arzneistoff, ist also bei der Anwendung eines Arzneistoffes der Einflul3 der Proteinbindung bereits durch die H6he der Gebrauchsdosis berticksichtigt. Diese 15berlegung kann allerdings nur dann eine praktische Bedeutung haben, wenn man voraussetzt, dab der verabreichte Arzneistoff auch bei allen Menschen gleich stark gebunden wird. Treten Abweichungen von der ,,normalen Bindung" eines Arzneistoffes auf, so mfissen sich diese in einer evtl. unerwarteten Verstfirkung oder Abschw/ichung der Wirkung bemerkbar machen. Faktoren, welche solche Abweichungen hervorrufen, sind daher yon besonderem pharmakokinetischen Interesse.

Artspezifische Unterschiede. Wie aus vielen Untersuchungen hervorgeht [94, 41, 11, 16, 8, 78], kann ein Arzneistoff bei den einzelnen Spezies in sehr verschiedenem AusmaB gebunden werden. Die in Tabelle 1 aufgeftihrten Werte vermitteln davon eine Vorstellung. Geht man davon aus, dab der gebundene Anteil nicht wirksam ist, dann mfil3te zwischen dem Ausmal3 der Bindung und der Toxizit~it bei einer bestimmten Spezies eine Korrelation vorhanden sein. Am Beispiel der Salicylsfiure (s. Abb. 2) lfil3t sich dies deutlich zeigen, wenn man ffir einige Spezies den wirksamen, freien Anteil dem Reziprokwert der LDso als Mal3 der Toxizit/it gegentiberstellt. Diese Abhfingigkeit weist auBerdem darauf hin, dab neben anderen Faktoren die artspezifisch verschiedene Proteinbindung mitbestimmend ist ftir die Unterschiede in der Wirkung eines Arzneimittels an Mensch und Versuchstier.

Einflufl der H +-Konzentration. Das Ausmal3 der Bindung von Arzneistoffen an Proteine hfingt von der H +-Konzentration ab [30, 82, 42, 51, 3, 71]. Bei einigen wird die Bindung von der H+-Konzentration nicht oder nut wenig beeinfluBt. Wie Abbildung 3 am Beispiel des Thiopentals zeigt, nimmt jedoch bei anderen Arzneistoffen mit Zunahme des pH-Wertes auch die Bindung an Plasmaproteine betrfichtlich zu. Berechnet man aus experimentell bestimmten Bindungswerten die zu erwartenden Ver/inderungen des freien Anteils in extremer Azidose bzw. Alkalose (s. Tabelle 2), so mtfl3te man daraus schliel3en, dab z.B. die Wirkung einer gleichen Dosis von Thiopental in der Azidose um das 1,3fache zunimmt, in der Alka-

H. Kurz: Proteinbindung

1197

Tabelle 1. An Plasmaproteine verschiedener Spezies gebandener Anteil von Arzneimitteln in % der Gesamtmenge. Konzentration der Arzneimittel 10 ~m [59]

Hexobarbital Phenylbutazon Sulfaguanidin Chinin Nitrofurantoin

Mensch

Rind

Schwein

Hund

Kaninchert

Meerschweinchen

Ratte

Maus

54,8 98,8 29,2 70,6 77,1

51,6 99,1 28,6 50,5 51,9

45,8 97,4 24,7 38,0 50,2

55,4 87,3 13,4 51,3 45,3

71,8 96,5 50,0 61,1 73,7

56,2 98,3 42,5 36,7 61,0

54,2 92,4 40,4 64,0 73,2

52,5 86,2 32,7 30,9 58,0

lose dagegen auf 60% der Wirkung bei normaler H ÷Konzentration abnimmt. Entsprechende Auswirkungen mfiBten zu erwarten sein, wenn z.B. bei einer Barbituratvergiftung eine Azidose auftritt, bzw. diese durch Infusion einer Natriumhydrogencarbonatl6sung wieder riickgfingig gemacht wird. Auf die Fragwiirdigkeit einer solchen nur aus der Bindung an Plasmaproteine abgeleiteten SchluBfolgerung wird am Ende dieses Berichtes hingewiesen werden.

zweiter Arzneistoff allosterische Ver~inderungen hervorruft, oder zu den Bindungsstellen am Protein eine h6here Affinit/it besitzt und somit den ersten Arzneistoff verdrS.ngt. Dadurch kann sich die Wirkungsst/irke des ersten Pharmakons erh6hen, obwohl sich seine Gesamtmenge im Organismus nicht ver~indert hat. Solche Wechselwirkungen wurden bereits ffir zahlreiche Arzneistoffe nachgewiesen [30, 93, 6, 48, 32, 33, 53, 20, 43, 40, 27, 12, 37, 77, 70, 7, 38]. Das bekannteste klinische Beispiel ist die Verdrfingung von Gerinnungshemmstoffen durch Phenylbutazon, die eine gef/ihrliche Verkfirzung der Gerinnungszeit zur Folge haben kann (z.B. [2, 35, 88, 45]). Tabelle 3 zeigt, wie die Dauer der Thiopentalnarkose beim Kaninchen unter der Einwirkung yon Phenytbutazon fast auf das Doppelte verl/ingert wird. Untersucht man den EinfluB des Phenylbutazons auf die Bindung von

Freisetzung und Mehrbindung. Bei der Proteinbindung handelt es sich um einen reversibten Vorgang, bei welchem freier und gebundener Anteil im Gleichgewicht stehen. Wird dieses Gleichgewicht gest6rt, so kann der Arzneistoff wieder in unver/inderter Form aus dem Proteinkomplex freigesetzt werden. Eine solche St6rung kann z.B. zustande kommen, wenn ein

50.

2.0 LD50

40.

+:,:

ii

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[Pharmaco-kinetic aspects of protein-binding (author's transl)].

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